Die "Verbismarckung" der Liberalen
Auch nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 schwelt in Deutschland der Konflikt zwischen Bürgertum und alter feudaler Klasse weiter. Hinzu tritt als neue Kraft die Arbeiterschaft. Die nationale Frage ist noch immer ungelöst. Die politische Kunst Bismarcks besteht zum guten Teil darin, die Unabweisbarkeit der neuen sozialen Kräfte und der nationalen Einigung zu erkennen. Er weiß, daß sich das Alte nur unter Zugeständnissen erhalten läßt. Er leitet eine "Revolution von oben" ein, um eine sonst unausweichliche Revolution von unten zu verhindern. Nach dem Sieg über Österreich bringt er es sogar fertig, die Fürsten von Hannover, Kurhessen und Nassau vom legitimen Thron zu stürzen, was keine demokratische Bewegung erreicht hat. Er kokettiert zeitweilig mit der Arbeiterschaft, um sie als Druckmittel gegen die Liberalen zu gebrauchen. Genauso bedient er sich aber auch der Liberalen, um die Sozialdemokratie unter Ausnahmegesetz zu stellen.
Bismarck scheint zu wissen, daß seine Herrschaft nur Bestand haben kann, wenn es nicht beim äußeren Zwang bleibt, sondern dieser verinnerlicht wird. Er entwickelt eine Taktik von "Zuckerbrot und Peitsche", die er erfolgreich gegenüber Liberalen und Sozialdemokraten anwendet. Seine Politik läßt sich als praktische Verhaltenspsychologie im gesellschaftlichen Maßstab begreifen. Sie terrorisiert und korrumpiert zugleich. Bismarck hat keine Bedenken, einen Rechtsbruch zu begehen, wenn es ihm zur Erlangung seines politischen Ziels notwendig erscheint. Er setzt sich genauso über die Legitimität der abgesetzten Fürsten hinweg wie über die verbrieften Rechte des Bürgertums im preußischen Verfassungskonflikt. Die Peitsche ist ihm jedoch kein Selbstzweck. Sie wird ergänzt durch "Zuckerbrot" in verschiedenerlei Gestalt.
Nachdem die schlimmsten Jahre der Konterrevolution überstanden sind, wird 1859 in Eisenach der Nationalverein gegründet, der die nationale Einigung Deutschlands unter preußischer Führung anvisiert. Obwohl er dieses Ziel durchaus auf der Grundlage der bestehenden halbfeudalen Machtverhältnisse zu erreichen versucht, verfolgen die herrschenden Mächte sein Wirken mit Mißtrauen und Polizeimaßnahmen. 1861 entsteht die Deutsche Fortschrittspartei, in der sich ebenfalls Liberale der demokratischen und konstitutionalistischen Richtung zusammenfinden. Bei den Wahlen zum preuBischen Abgeordnetenhaus erringt die Fortschrittspartei mit anderen liberalen Gruppen die nahezu ausschließliche parlamentarische Mehrheit. Zu Beginn des Verfassungskonflikts sitzen im Abgeordnetenhaus 253 Abgeordnete der liberalen Opposition nur 23 Bismarck-Anhängern gegenüber.
Der Verfassungskonflikt offenbart die inkonsequente, zwischen Aufbegehren und Loyalität schwankende Haltung der liberalen Bourgeoisie. Die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses demonstriert zwar 1860 ihre Unzufriedenheit mit den herrschenden politischen Verhältnissen, indem sie die Bewilligung der Gelder für die von der Regierung geplante Heeresreform verweigert. Gleichwohl bewilligt sie der Regierung einen außerordentlichen Zuschuß für die Kriegskasse, mit dem die Heeresreform in Angriff genommen werden kann. Das wiederholt sich 1861. Als dann im folgenden Jahr die liberalen Parteien erneut die Gelder für die Heeresreform aus dem Budget streichen und kein Budgetgesetz zustande kommt, läßt es der neue Ministerpräsident Otto von Bismarck auf die offene Kraftprobe mit den Liberalen ankommen. Er bricht einfach die Verfassung, regiert ohne Budgetgesetz und setzt sich auch auf anderen Gebieten - so durch seine berüchtigten Presseordonnanzen - über verbriefte Rechte des Bürgertums hinweg. Trotz der erheblichen Unruhe im Volk, die von Attentaten auf Wilhelm I. (1861) und Bismarck (1866) begleitet wird, wagen es die Liberalen nicht, Bismarcks Fehdehandschuh aufzugreifen. Die Abwendung des "vierten Standes" vom besitzbürgerlich erstarrenden Liberalismus wird dadurch beschleunigt.
Der Zerfall der Fortschrittspartei und die Reintegration der liberalen Strömungen bis 1919
Der Verfassungskonflikt läßt die latente, bis in den Vormärz zurückreichende Spaltung im liberalen Lager erneut manifest werden. Einflußreiche Teile der Bourgeoisie gehen nach einer kurzen Linksschwenkung offen zu Bismarck über. Sie treiben Realpolitik, indem sie ihre politischen Forderungen gegen ökonomische Zugeständnisse eintauschen, die ihnen Bismarck im Zuge seiner "Revolution von oben" auch zu gewähren bereit ist. Schon 1864 hatte sich aus liberalen Verfechtern des Freihandels die "Volkswirtschaftliche Gruppe" formiert, die eine Einigung mit Bismarck anstrebte. Unter dem Eindruck des preuBischen Siegs über Österreich billigt dann 1866 die Mehrheit des Abgeordnetenhauses bei nur 75 Gegenstimmen die "Indemnitätsvorlage" und damit nachträglich das verfassungswidrige Vorgehen Bismarcks. 1867 bricht die Fortschrittspartei endgültig auseinander. Die Vertreter des Großbürgertums, die eine Zusammenarbeit mit dem Regime anstreben, bilden die Nationalliberale Partei, die in der Folge zur wichtigsten parlamentarischen Stütze Bismarcks wird. In Süddeutschland formieren sich die demokratisch-republikanischen Kräfte der Fortschrittspartei zur Deutschen Volkspartei (die nicht mit der im Dezember 1918 entstandenen Rechtspartei gleichen Namens unter der Führung von Gustav Stresemann verwechselt werden darf).
Das recht komplizierte Gefüge des deutschen Liberalismus, wie es sich vom Nachmärz bis zur Weimarer Republik entwickelte, verdeutlicht das folgende Schema:
Die preußischen Siege über Dänemark (1864) und Österreich (1866) demonstrieren die Schlagkraft des halbfeudalen preußischen Regimes nach innen und außen. Sie unterstreichen augenfällig die Worte Bismarcks, wonach nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse, sondern durch "Blut und Eisen" die großen Fragen der Zeit entschieden werden. Da diese Machtpolitik zugleich mit erheblichen Fortschritten bei der nationalen Einigung verbunden ist und auf ökonomischem Gebiet Verständnis für die Interessen der Bourgeoisie zeigt, leitet sie eine psychologische Wende in der Haltung des preußischen und deutschen Bürgertums ein. Das Bürgertum "verbismarckt" allmählich. Seine Vorbehalte gegenüber der Innenpolitik Bismarcks verblassen vor der Begeisterung über die außenpolitischen Erfolge bzw. auf dem Gebiet der nationalen Einigung. Dieser Umschwung dokumentiert sich bereits 1866 in den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus, die am Tag der siegreichen Schlacht von Königgrätz stattfinden. Die Fortschrittspartei, die sich gegen den preußisch-österreichischen Bruderkrieg gewandt hatte, verliert dabei fast die Hälfte ihrer bisher 143 Mandate. Die "Altliberalen", die Bismarck unterstützt haben, gelangen dagegen von 9 auf 26 Sitze und die Konservativen vervierfachen sogar ihren Anteil von 36 auf 142 Mandate.
Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 wird der deutsche Nationalstaat in seinen Grundzügen vollendet. Der siegreiche Krieg von 1870/71 vollendet die Einbeziehung der süddeutschen Staaten in den Bund. Der König von Preußen wird erbliches Bundesoberhaupt und führt den Titel eines deutschen Kaisers. Es charakterisiert die junkerlich-despotischen Züge des damit aus der Taufe gehobenen Staatswesens, daß bei der Proklamation des Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles kein einziger bürgerlicher Abgesandter zugegen ist. Das demokratische Bürgertum ist mit diesem Triumph so gut wie auf den Nullpunkt gebracht. Ihm bleibt politisch wie bewußtseinsmäßig fortan nur noch die totale Resignation oder das Arrangement mit dem halbfeudal-despotischen Regime. Es entwickelt sich jene Untertanenmentalität, wie sie Heinrich Mann in seinem Roman "Der Untertan" in der Figur des Diederich Heßling aufgezeigt hat - kontrastierend zu der resignativen Gestalt des alten Buck, der an den demokratischen Idealen seiner Jugendzeit festhält.
In rascher Folge verabschieden der norddeutsche und spätere deutsche Reichstag eine Reihe von Gesetzen, mit denen die ökonomische Ordnung im Sinne der Bourgeoisie ausgebaut und gefestigt wird: 1867 Zollvereinigungsgesetz, Freizügigkeit, Konsulatsgesetz, Gesetz über Nationalität der Kauffahrteischiffe; 1868 einheitliches Maß und Gewicht, Notgewerbegesetz; 1869 Zollgesetz, Gewerbeordnung, Handelsgesetzbuch und Wechselordnung; 1870 Gesetz über Urheberrecht am geistigen Eigentum; 1871 Postgesetz; 1872 Seemannsordnung; 1873 einheitliche Münze, Zolltarifgesetz; 1874 Markenschutz, Strandungsordnung; 1875 Reichsbank, Eisenbahnpostgesetz; 1876 Patentgesetz.
Nicht verabschiedet werden dagegen wirklich liberale Gesetze, beispielsweise ein freies Presse- und Vereinsgesetz. Der nationalistische Taumel im Gefolge der Reichsgründung entzieht solchen liberalen Forderungen vollends den Boden. Ein wesentlicher Bestandteil der alten Forderungen, die nationale Einheit, ist schließlich erreicht worden. Daß in dem neuen nationalen Einheitsstaat die Vertreter der alten feudalen Klasse das Heft in der Hand haben, wird von den Nationalliberalen gern übersehen, solange daraus der Bourgeoisie keine wesentlichen, nämlich ökonomischen Behinderungen erwachsen.
Dabei differiert jedoch die ökonomische Interessenlage der bürgerlichen Schichten zunehmend und zieht entsprechende ideologische Implikationen nach sich. Auf die Hochkonjunktur der "Gründerjahre", die von vier Milliarden Mark französischer Kriegsentschädigung angeheizt wird, folgt ab 1873 eine Serie wirtschaftlicher Zusammenbrüche. Der große "Krach" stärkt die Stellung des Großkapitals und erschüttert das liberale Vertrauen in die Harmonie der wirtschaftlichen Interessen bei ungezügeltem Wettbewerb. "Die Erfahrungen der siebziger Jahre", schreibt der Kulturhistoriker Karl Lamprecht, "bekehrten wichtige Gruppen der Unternehmer vom Freihandel zum Schutzzoll und machten sie der alten Theorie, die nunmehr als Theorie des Liberalismus schlechthin zu gelten begann, abspenstig."
Die liberalen Ideen des "Nachtwächterstaats", des Freihandels und des "Laissez faire" entsprechen gegen Ende des 19. Jahrhunderts weder den fortgeschrittenen kapitalistischen Produktionsverhältnissen noch der zunehmenden Gefahr, die für Besitzbürgertum und Adel vom erstarkenden "vierten Stand" ausgeht. In entscheidenden Wirtschaftsbereichen wird das freie Spiel der Kräfte durch Monopole und Kartelle beseitigt. Aus der freien Konkurrenz erwachsen neue marktbeherrschende Unternehmen. Den neuentstehenden Monopolen fällt es nicht schwer, ihr Kapitalinteresse mit dem Nationalinteresse gleichzusetzen. Es ist die Zeit der weltweiten Expansion des Monopolkapitals. Es werden Flotten gebaut, Heere ausgerüstet, Kolonien erworben und lautstarke Ansprüche auf wirtschaftliche Einflußbereiche angemeldet. Das Wort "Imperialismus" - noch nicht durch zwei Weltkriege und die spezifisch marxistische Sinngebung diskreditiert - wird von der zeitgenössischen Bourgeoisie durchaus unbefangen und mit positivem Akzent gebraucht. In Deutschland erhält diese imperialistische Politik durch das Zusammentreffen einer stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung mit einem halbfeudal-militaristischen Staatsapparat eine besonders aggressive Note. Besonders kraß gestaltet sich in Deutschland auch der Widerspruch zwischen den ökonomischen Potenzen des Kapitals und seinem verhältnismäßig geringen geographischen Einflußbereich. Die aggressivsten Vertreter des deutschen Imperialismus, die sich seit 1891 im "Alldeutschen Verband" zusammengeschlossen haben, streben offen nach der Annektion anderer europäischer Gebiete.
Über Art und Ziele solch expansiver Machtpolitik gibt es im Lager des herrschenden Kreise wiederum differierende Auffassungen. Die neuen Monopole der Elektro- und Chemieindustrie, die sich im "Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein" zusammengeschlossen haben, sind dem blindwütigen Chauvinismus der "Alldeutschen" überwiegend abgeneigt. Sie schrecken zwar genausowenig vor einem imperialistischen Eroberungskrieg zurück wie das Bündnis von Großgrundbesitz, Kohle und Stahl, vertrauen aber mehr auf ihre eigene ökonomische Stärke zur Durchsetzung und Behauptung der wirtschaftlichen Hegemonie in Europa. Das hat durchaus objektive Gründe. Zum einen verfügen die deutschen Chemie- und Elektromonopole über umfangreiche Kapitalanlagen im Ausland (man denke etwa an den Bau der Bagdad-Bahn), zum anderen kann sich um die Jahrhundertwende kein anderes Land mit der geballten Macht der neuen Industrien in Deutschland messen, während die Beherrscher von Kohle und Stahl zumindest mit der überlegenen Konkurrenz Englands rechnen müssen.
Diese Front zwischen Junkern und Schwerindustrie einerseits und den neuen Industrien andererseits wird schon bei der heftigen Auseinandersetzung um die Schutzzölle sichtbar, in der sich die Schwerindustriellen mit den Großagrariern hinter Bismarck stellen. Eine Gruppe nationalliberaler Anhänger des Freihandels spaltet sich daraufhin 1880 als Liberale Vereinigung ab und schließt sich 1884 mit der Fortschrittspartei zur Deutschen Freisinnigen Partei zusammen. 1893 zerfällt diese Partei wiederum in die Freisinnige Volkspartei Eugen Richters und die großindustriell beherrschte Freisinnige Vereinigung. Letztere nimmt 1903 den Nationalsozialen Verein auf, der 1896 von Friedrich Naumann gegründet worden war. 1910 formiert sich dann aus der Freisinnigen Vereinigung, der Freisinnigen Volkspartei und der süddeutschen "Demokratischen Volkspartei" die Fortschrittliche Volkspartei. 1919 mündet die "Fortschrittliche Volkspartei" in die Deutsche Demokratische Partei (DDP), die nach Ende des ersten Weltkriegs als liberales Sammelbecken konzipiert wird und auch die ehemalige Nationalliberale Partei teilweise beerbt. Der rechte Flügel der ehemaligen Nationalliberalen verweigert sich freilich dem Anschluß an die DDP und findet stattdessen in Gustav Stresemanns Deutscher Volkspartei (DVP) (die mit der inzwischen verblichenen Deutschen Volkspartei der süddeutschen Demokraten nichts zu tun hat) eine neue politische Heimat.