Der Reformismus-Streit und die Spaltung der SPD
Das Erfurter Programm der Sozialdemokratie, das 1891 auf dem ersten legalen Parteitag nach dem Sozialistengesetz beschlossen wurde, unterschied sich nach dem Urteil von Friedrich Engels "sehr vorteilhaft vom bisherigen Programm". Vor allem seien die "lassallischen wie vulgärsozialistischen" Elemente des Gothaer Programms überwunden. Es stehe auf dem "Boden der heutigen Wissenschaft" und lasse sich von diesem aus diskutieren. Engels entdeckt dann aber vor allem in den politischen Forderungen des Programms "einen großen Fehler", nämlich das Fehlen der Forderung nach Beseitigung der derzeitigen feudalobrigkeitsstaatlichen Reichsverfassung. Er interpretiert diesen ideologischen Schwachpunkt als Folge der Furcht vor einer Wiederholung des Sozialistengesetzes. Auch ein derzeit in einem großen Teil der sozialdemokratischen Presse einreißender "Opportunismus" sei auf diese Furcht zurückzuführen. Engels betont demgegenüber, daß eine solche opportunistische Haltung zu illusionären Vorstellungen über den Sozialismus und seine Verwirklichung führe:
"Aus Furcht vor einer Erneuerung des Sozialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter der Herrschaft jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal der gegenwärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei genügen können, alle ihre Forderungen auf friedlichem Weg durchzuführen. Man redet sich und der Partei vor, 'die heutige Gesellschaft wachse in den Sozialismus hinein' ... [...] Aber das Faktum, daß man nicht einmal ein offen republikanisches Parteiprogramm in Deutschland aufstellen darf, beweist, wie kolossal die Illusion ist, als könne man dort auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft."Tatsächlich dauert es nicht lange, bis der von Engels kritisierte Opportunismus zur herrschenden Richtung innerhalb der Partei wird. In der Theorie bewirkt er den "Revisionismus", in der politischen Praxis den "Reformismus". Der Opportunismus offenbart sich dabei in den seltensten Fällen in programmatischen Abstrichen an der marxistischen Theorie. Er zeigt sich vor allem in einer unreflektierten Übernahme von Elementen der herrschenden bürgerlichen Ideologie. Etwa eines diffusen "Gefühlssozialismus", mit dem die Opportunisten nach dem Urteil von Engels "den Klassenkampf des Proletariats gegen seine Unterdrücker in eine allgemeine Menschenverbrüderungsanstalt verwässern".
Das Elend mit der Verelendungstheorie
Die sozialdemokratische Ideologie ist freilich nicht nur in dem von Engels kritisierten Punkt notleidend geworden. Der stillschweigende Verzicht auf die Beseitigung des wilhelminischen Regimes hat tiefere Ursachen: Er ist die Reaktion auf eine für jedermann erkennbare Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Es zeigt sich inzwischen nämlich, daß der Kapitalismus keineswegs zu einer anhaltenden Verelendung der Lohnarbeiter führen muß.
Von einer solchen Verelendung war nicht bloß Marx ausgegangen. Diese Erwartung war - explizit oder implizit - Allgemeingut der Nationalökonomie des liberalen Zeitalters. Wie der Historiker Karl Lamprecht feststellte, hat sie sich sogar bis in die neunziger Jahre behaupten können. Erst dann sei sie zunehmend - innerhalb der herrschenden Klasse wie auch in Gestalt des sozialdemokratischen Revisionismus - der Überzeugung gewichen, daß die Lohnarbeiter ihre soziale Lage innerhalb des kapitalistischen Systems verbessern könnten.
An die nationalökonomische Prämisse der Verelendung knüpfte sich aber eine zweite Prämisse psychologischer Art: Daß die Proletarier aus ihrem Elend und ihrer überwältigenden Mehrheit heraus zum Sturz der winzigen Ausbeuterklasse schreiten würden.
Beide Prämissen erweisen sich nunmehr als haltlos. Für die marxistische Theorie, die lediglich die Methode zur Entwicklung dieser (später so genannten) "Verelendungstheorie" geliefert hatte, wäre das zu verschmerzen. Nicht aber für die sozialdemokratische Utopie, in der die marxistische Theorie massenwirksame Gestalt angenommen hat. Diese wird in eine tiefe Krise gestürzt. Schließlich steht und fällt das politische Engagement der Massen mit der Überzeugung, die eigene Lage verbessern zu können. Und paradoxerweise ist es gelungen, eine solche Verbesserung mittels einer Ideologie zu erreichen, die sich dabei selbst desavouiert hat. Es ist nur konsequent, wenn Bernstein daraus den Schluß zieht, daß es nicht auf das sozialistische Ziel, sondern auf die Bewegung ankomme. - Allerdings scheint er dabei zu übersehen, daß erst der Glaube an das Ziel die Bewegung zustande gebracht hat.
Der Revisionismus greift Fragen auf, die von der Partei-Orthodoxie ignoriert werden
Die Krise der sozialdemokratischen Ideologie fällt zusammen mit der Krise der bürgerlichen Ideologie, die sich durch das unaufhaltsame Heraufkommen der "Massen" vor unlösbare Probleme gestellt sieht. Es entsteht ein wechselseitiger Austausch zwischen beiden Lagern: Schon drei Jahre vor Bernstein entwickelt der Nationalökonom Werner Sombart die Grundzüge des Revisionismus. Ein Foto aus dem Jahre 1895 zeigt Sombart zwischen August Bebel links und dem "Nationalsozialen" Friedrich Naumann rechts. Es symbolisiert den fließenden Übergang zwischen sozialdemokratischer und bürgerlicher Ideologie.
In seinem 1913 veröffentlichten "Bourgeois" schreibt Sombart:
"Nun rast der Riese fessellos durch die Lande, alles niederrennend, was sich ihm in den Weg stellt. Was wird die Zukunft bringen? Wer der Meinung ist, daß der Riese Kapitalismus Natur und Menschen zerstört, wird hoffen, daß man ihn fesseln und wieder in die Schranken zurückführen könne, aus denen er ausgebrochen ist. [...] Das einzige, was man, solange des Riesen Kraft ungebrochen ist, tun kann, ist Schutzvorkehrungen zu treffen zur Sicherung von Leib und Leben, Hab und Gut. Feuereimer aufstellen in Gestalt von Arbeiterschutzgesetzen, Heimatschutzgesetzen und Ähnlichem und ihre Bedienung einer wohlorganisierten Mannschaft übertragen, damit sie den Brand lösche, der in die umfriedeten Hütten unserer Kultur geschleudert wird."Im nachhinein klingt das fast wie eine Prophezeiung des Ersten Weltkriegs. Ein Gedanke an die Katastrophe, die nur neun Monate später die Welt verändern wird, liegt Sombart jedoch fern. Seine Allegorie vom entfesselten Riesen Kapitalismus, der Natur und Menschen zerstört, bezieht sich nicht auf den äußeren Kampf um den "Futterplatz", sondern auf den inneren Kampf um den "Futteranteil". Aber auch hier dient das apokalyptische Bild nur dramaturgischen Zwecken. In Wirklichkeit erwartet Sombart eher eine sanft-evolutionäre Entwicklung:
"Wird aber sein Rasen ewig währen? Wird er sich nicht müde rennen? Ich glaube, er wird es tun. Ich glaube, daß in der Natur des kapitalistischen Geistes selbst eine Tendenz liegt, die ihn von innen heraus zu zersetzen und zu ertöten trachtet. [. . .] Was den Unternehmungsgeist, ohne den der kapitalistische Geist nicht bestehen kann, immer gebrochen hat, war das Verflachen in ein sattes Rentnertum oder die Annahme seigneuraler Allüren. Der Bourgeois verfettet in dem Maße, wie er reicher wird und sich gewöhnt, seinen Reichtum in Rentenform zu nützen, gleichzeitig aber auch sich dem Luxus zu ergeben und das Leben eines Landgentleman zu führen. Sollten diese Mächte, die wir so oft am Werke sahen, in Zukunft nicht wirksam bleiben? Es wäre seltsam."Der Revisionismus, wie ihn Sombarts Vision von der Zukunft des Kapitalismus zum Ausdruck bringt, ist kein "Verrat" an der reinen Lehre des revolutionären Marxismus. Er greift vielmehr Fragen auf, die jene ignoriert, und ist ihr insoweit überlegen. Er ist die Reaktion auf eine objektive Veränderung der gesellschaftlichen Situation. Seine "Prinzipienlosigkeit" ist das Gegenstück zu einer Prinzipienfestigkeit, die sich in wichtigen Punkten an überholte Vorstellungen klammert und damit die Fähigkeit einbüßt, überzeugende Orientierungen zu vermitteln.
Neben der Verelendungstheorie sind inzwischen etliche andere Bestandteile der sozialdemokratischen Ideologie notleidend geworden. Dazu gehört die Erwartung des großen "Kladderadatsches", des Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems, sei es durch eine wirtschaftliche Krise, die revolutionäre Erhebung der Massen oder beides zusammen. Es zeigt sich auch schon sehr deutlich, daß die gesellschaftliche Polarisierung zwischen lohnabhängigem Proletariat und kapitalistischer Bourgeoisie an der Stelle des zerriebenen Kleinbürgertums keine tiefe Kluft hinterläßt, sondern vielmehr zur Entstehung neuer sozialer Schichten führt. Die "Arbeiteraristokratie" und der "neue Mittelstand" der Angestellten haben mehr zu verlieren als ihre Ketten. Sie sind deshalb die geborenen Mittler für den ideologischen Transfer zwischen herrschenden und unterdrückten Klassen. Andererseits wäre es offensichtlich wiederum ein Trugschluß, revolutionäres Bewußtsein von einem wachsenden Grad der Armut und Entrechtung zu erwarten. Die klassenbewußtesten Sozialdemokraten kommen schließlich aus dem hochbezahlten und privilegierten Druckerberuf. Die sozialdemokratische Intelligenz sämtlicher Richtungen ist sogar fast ausschließlich bürgerlicher Herkunft.
So gibt es eine Fülle von Fragen, vor denen die Parteiorthodoxie die Augen verschließt. Sie beschränkt sich darauf, die papierene Reinheit der Lehre zu bewahren, während in der Praxis die Revisionisten zunehmend den Ton angeben. Auch von seiten der bewußteren deutschen Marxisten wie Franz Mehring oder Rosa Luxemburg erfolgt keine Weiterentwicklung der marxistischen Theorie. Bei ihrer scharfen Kritik am Revisionismus übersehen sie die berechtigten Fragestellungen, auf die er seine anfechtbaren Antworten gibt. Nur Lenin unternimmt mit seiner "Imperialismus"-Theorie den Versuch zu einer Weiterentwicklung der marxistischen Sichtweise, die freilich von Anfang an mit starken Mängeln behaftet ist und in dogmatischer Erstarrung endet.
Der Opportunismus ist nicht auf die deutsche Sozialdemokratie beschränkt. Er ist vielmehr eine internationale Erscheinung. Allein dieser Umstand zeigt, daß er nicht irgendeinem "Verrat" führender Sozialdemokraten von Bernstein bis Kautsky entspringt, sondern die Reaktion auf eine objektive Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. "Der verhältnismäßig 'friedliche' Charakter der Epoche 1871 bis 1914", meinte Lenin, "nährte den Opportunismus anfangs als Stimmung, dann als Richtung, schließlich als Gruppe oder Schicht der Arbeiterbürokratie und der kleinbürgerlichen Mitläufer."
Förderlich für den Reformismus war sicher auch, daß der "verhältnismäßig 'friedliche' Charakter der Epoche" mit einer sehr unfriedlichen Verfolgung und Ächtung der Sozialdemokratie einherging. Noch Ende 1895 wurde im neuerbauten Reichstagsgebäude als erster Gesetzentwurf die berüchtigte "Umsturzvorlage" eingebracht, die sozialdemokratische und freisinnige Bestrebungen unter Strafandrohung stellen sollte. Das Bedürfnis nach bürgerlicher Respektabilität, nach Befreiung vom Stigma der "vaterlandslosen Gesellen", darf bei Mitgliedern und Funktionären der Partei nicht unterschätzt werden. Es war besonders stark unter den "kleinbürgerlichen Mitläufern", die nicht bloß Mitläufer waren, sondern den wesentlichen Teil der Parteijournalisten und sonstigen sozialdemokratischen Intelligenz stellten.
Es darf ferner nicht übersehen werden, daß die Sozialdemokratie zu keiner Zeit eine rein marxistische Partei war. Die fortdauernde Popularität Lassalles, dessen Bildnis dem von Marx ebenbürtig an die Seite gestellt wurde, kennzeichnet den Bewußtseinsstand eines großen, wenn nicht des größten Teils der Anhängerschaft. Friedrich Ebert, der 1913 die Nachfolge Bebels im Amt des Parteivorsitzenden antrat und damit den Triumph des Revisionismus vollendete, entstammte eher der lassalleanischen Richtung. Der marxistischen Tradition hat er Zeit seines Lebens fremd und ablehnend gegenübergestanden.
Lenin hat einmal von der Verwandlung der SPD in eine "nationalllberale, eine konterrevolutionäre Arbeiterpartei" gesprochen. In der Tat erinnert die Gärung innerhalb der SPD der Jahrhundertwende an die vorangegangene Spaltung des Liberalismus. Die Rolle der Nationalliberalen übernehmen dabei die Revisionisten, die sich in ähnlicher Weise mit den herrschenden Mächten zu arrangieren versuchen und mit dem Gewerkschaftsapparat über eine ähnlich solide Basis verfügen wie die Nationalliberalen mit ihrem Besitz an Fabriken, Handels- und Bankgeschäften. An die ohnmächtig-sterile Haltung der alten Fortschrittspartei gemahnt die Parteiorthodoxie. <
Nur noch auf dem Papier eine revolutionäre Partei
Vorläufig wird die Einheit der Partei noch gewahrt. Der Preis für die Einheit ist, daß die SPD zwar auf dem Papier eine revolutionäre Partei bleibt, in der Praxis aber immer stärker reformistische Züge annimmt. Auf dem Dresdner Parteitag von 1903 setzt August Bebel die bislang schärfste Verurteilung des Revisionismus durch. Ein Kernsatz der Resolution lautet: "Der Parteitag verurteilt auf das entschiedenste die revisionistischen Bestrebungen, unsere bisherige bewährte und sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, daß an Stelle der Eroberung der politischen Macht durch Überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge tritt." Die Revisionisten weigern sich jedoch einfach, den Fehdehandschuh aufzugreifen. Sie erklären sich für nicht betroffen, stimmen der Resolution zu und verhelfen ihr so zur Annahme mit der überwältigenden Mehrheit von 288 gegen 11 Stimmen.
"Die Sozialdemokratie ist eine utopistisch-radikale Reformpartei, nichts weiter", spottet Paul Rohrbach, ein führender Propagandist des im "Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein" organisierten Großbürgertums, um die Jahrhundertwende. "Seit man den Versuch aufgegeben hat, sie unter ein Ausnahmegesetz zu stellen, hat sie ihre akute Gefahr für das Staatsleben verloren, und sie hat ihrem revolutionären Charakter soviel kleinbürgerlich-philiströse Elemente eingefügt, daß es ihr geglückt ist, die Massen zu gewinnen. Äußerlich erscheint sie dadurch gestärkt, innerlich wird sie aber der Krisis überantwortet . . .".
Wie sehr die Sozialdemokratie - nicht nur in Deutschland - inzwischen unter den Einfluß der herrschenden bürgerlichen Ideologie geraten ist, offenbart sich bei Beginn des Ersten Weltkriegs. Das Attentat von Serajewo, bei dem am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger ermordet wird, liefert den Anlaß für die Auslösung eines Krieges, den Deutschland und die konkurrierenden Großmächte bewußt als Kraftprobe um die Neuverteilung ihrer imperialen Einflußsphären angesteuert haben. Im Vorfeld der Kriegsvorbereitungen stellt sich den Herrschenden auch die Frage, wie mit der Sozialdemokratie zu verfahren sei. Schon bei einer Besprechung am 24. Juli im preußischen Kriegsministerium wird entschieden, von einer Verhaftung der sozialdemokratischen Abgeordneten und sonstigen Repressalien gegen die Sozialdemokratie abzusehen, da man sich ihrer sicher sein könne. Am 28. Juli versichert der Abgeordnete Südekum dem Reichskanzler Bethmann Hollweg ausdrücklich, daß die SPD "keinerlei wie immer geartete Aktion" gegen den Krieg unternehmen werde. Nach interner Vorabstimmung (78 gegen 14 Stimmen) votiert die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag am 4. August 1914 einstimmig für die von der Regierung beantragten Kriegskredite. Ein führender Vertreter des opportunistischen Flügels der Partei, der Mannheimer Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank, meldet sich sogar als Kriegsfreiwilliger und stirbt noch im selben Jahr auf dem Schlachtfeld.
Friedrich Ebert haßte die Revolution "wie die Sünde"
Als sich gegen Ende des ersten wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung breitmacht, die schließlich sogar zur offene Rebellion führt, offerieren die herrschenden Klassen der Sozialdemokratie die Teilhabe an der politischen Macht. Das Ziel ist, die innenpolitische Situation unter Kontrolle zu halten, wenn sich die militärische Niederlage nicht mehr verheimlichen läßt. Vier Tage nachdem die Oberste Heeresleitung ein sofortiges Waffenstillstandsangebot an die Entente gefordert hat, bildet Prinz Max von Baden am 3. Oktober 1918 ein Kabinett auf parlamentarischer Grundlage. Am 28. Oktober wird die Reichsverfassung parlamentarisiert. Der neue Reichskanzler, der seinem kaiserlichen Vetter mit solchen Mitteln den Thron erhalten möchte, ist voll des Lobes über die Führer der SPD: "Gottlob, daß ich in den Sozialdemokraten Männer auf meiner Seite habe, auf deren Loyalität wenigstens gegen mich ich mich vollkommen verlassen kann. Mit ihrer Hilfe werde ich hoffentlich imstande sein, den Kaiser zu retten."
Der Matrosenaufstand in Kiel und die Revolution in Berlin durchkreuzen dieses Konzept. Der Kaiser muß weg, damit das System in seinen Grundzügen erhalten bleiben kann. Das sieht jetzt sogar die SPD-Führung ein. Sie setzt sich scheinbar an die Spitze der Revolution, um sie vom Kurs der Spartakisten und der USPD abzubringen und in gemäßigtes Fahrwasser zu lenken. Unmißverständlich bringt dies der neue Reichskanzler und SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert zum Ausdruck: "Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht, ja, ich hasse die Revolution wie die Sünde."
Vollends kabarettreif wird die Rolle der SPD bei der Revolution in Baden, wo sich die "großherzoglichen Sozialdemokraten" nur widerwillig zur Entthronung des Landesfürsten bereitfinden. Der Landtagsvizepräsident Geiß, der die Entthronungsdeputation anführt, ist aus früheren Tagen "bei Hofe" gut bekannt. Der Großherzog geht ihm entgegen und ruft bewegt: "Herr Geiß! So müssen wir uns wiedersehen - das hätte ich nie und nimmer gedacht!" Worauf der Angeredete treuherzig antwortet: "Königliche Hoheit - mei' Schuld ischts nit!"
Der "Verrat" Eberts und anderer führender Sozialdemokraten ist zum floskelhaften Vorwurf in der späteren politischen Auseinandersetzung geworden. Damit wurde dem Eindruck Vorschub geleistet, als hätten sie im Gegensatz zu ihrer subjektiven Überzeugung und Einsicht gehandelt. Dies taten sie aber offensichtlich nicht. Wer die Revolution "wie die Sünde" haßt, kann sie auch nicht verraten. Das Bemerkenswerte besteht gerade darin, daß Ebert und seinesgleichen als Überzeugungstäter handelten.
Mit dem Sieg des Reformismus, der sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts durchsetzt, entläßt die SPD zugleich jene Kräfte, die auf Fundamentalopposition beharren und den Kapitalismus durch eine sozialistische Gesellschaft ersetzen wollen. Am Ende des ersten Weltkriegs kommt es zum offenen Bruch: Durch die Abspaltung der USPD mit der Spartakusgruppe im April 1917 und die Gründung der KPD an der Jahreswende 1918/19.
Inflation und Massenarbeitslosigkeit führen zur weiteren Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung
Die Halbherzigkeit der Revolution des Jahres 1918 mit allen ihren Folgen läßt sich als Fortsetzung jener Tragödie zu sehen, die schon zum Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848/49 führte. Am Ende des ersten Weltkriegs wird erneut die Chance zu einer grundlegenden demokratischen Erneuerung Deutschlands vertan. Und wie in einer echten Tragödie läßt sich die Schuld allen und niemandem zuweisen: Die SPD-Führung bietet in der Tat ein jämmerliches Bild, wie sie zuerst sogar den Kaiser retten will und dann möglichst alles beim alten läßt, um nur keine Kraftprobe mit der Rechten zu riskieren. Der Bürgerkrieg, den sie verhindern möchte, findet faktisch doch statt. Die revolutionäre Linke, die in Hamburg oder Sachsen bewaffnete Aufstände unternimmt, ist aber mindestens ebenso verblendet. Ganz zu schweigen von den rechtsextremen Freischaren und Mordkommandos, deren prominenteste Opfer Walter Rathenau und Matthias Erzberger sind. Zur weiteren Traumatisierung der deutschen Bevölkerung tragen die totale Geldentwertung am Anfang der zwanziger Jahre sowie die Massenarbeitslosigkeit am Ende des Jahrzehnts bei. Nur vor diesem katastrophalen zeitgeschichtlichen Hintergrund läßt sich jene Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung verstehen, die bezeichnenderweise in der wirtschaftlich-sozialen Stabilisierungsphase ab 1924 stark zurückgeht, um dann mit der Weltwirtschaftskrise erneut hervorzubrechen und Deutschland in der Barbarei des Nationalsozialismus versinken zu lassen.