(Aus: Udo Leuscher, "Entfremdung - Neurose - Ideologie", Bund-Verlag, Köln 1990, S. 126 - 134) |
(1885 - 1953) |
"Psychologie des Sozialismus"Hendrik de Mans Kritik der vulgärmarxistischen Theorie und Praxis |
Im Jahre 1905 kam ein junger Flame namens Hendrik de Man nach Deutschland, um für das Blatt der belgischen Sozialisten über den Jenaer Parteitag der Sozialdemokraten zu berichten. Er blieb, wurde Mitarbeiter der "Leipziger Volkszeitung" und leitete zusammen mit Karl Liebknecht und Ludwig Frank zwei Jahre lang das 1906 gegründete internationale Sekretariat der sozialistischen Jugendorganisationen. Nebenher studierte er in Leipzig Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie, und zwar, was die beiden letzten Fächer betraf, bei Karl Lamprecht und Wilhelm Wundt. Bei Lamprecht lernte er dessen psychologisierende Geschichtstheorie kennen. Noch wichtiger war aber der Einfluß Wundts, dessen psychologischen Experimente ihn mehr als die philosophischen Vorlesungen interessierten. Durch Wundt lernte er, "die Bewußtseinsvorgänge nicht zu unterschätzen und sie in ihrer Beziehung zum Unterbewußten eher als Überbau denn als Gegensatz zu betrachten". Dieser rationalistische Ansatz kam ihm zustatten, als er etwa ein Jahrzehnt später die Tiefenpsychologie Freuds und dessen Jünger kennenlernte: "Da wurde mir zwar manche neue, wertvolle Einsicht eröffnet, aber ich machte die Exzesse nicht mit, die so vielen Menschen die Psychoanalyse nach einer ersten Begeisterungsphase wieder verleidet haben." (136)
Hendrik de Man gehörte innerhalb der deutschen und belgischen Sozialdemokratie zunächst zum radikal-marxistischen Flügel. Im Ersten Weltkrieg erlebte er dann als belgischer Offizier, wie "das ganze Gebäude der internationalen Solidarität, das die sozialistische Bewegung in jahrzehntelanger Arbeit errichtet hatte, beim ersten Windstoß wie ein Kartenhaus zusammengebrochen" ist. Es gab offenbar Motive, die mächtiger waren als die gemeinsamen Klasseninteressen oder politischen Ideale und die bisher von der marxistischen Theorie verkannt worden waren.
Neben umfassender Bildung und psychologisch geschultem Blick kam de Man seine intime Kenntnis der Praxis zustatten. Er wußte, wie es in Parteien, Gewerkschaften, Betrieben und Arbeiterquartieren aussah. Er kannte führende Funktionäre der internationalen Arbeiterbewegung von Karl Radek bis Leo Trotzki aus nächster Nähe. Er kam viel herum, lebte und arbeitete ein Jahr in England. Nach der Petersburger Revolution im März 1917 reiste er als Vertreter seiner Regierung und der belgischen Arbeiterbewegung nach Rußland, um die Lage unter der Kerenski-Regierung zu sondieren. Kurz darauf führte ihn eine andere offizielle Mission in die USA. Mit dem Wahnsinn des Weltkriegs, der unausweichlichen Konfrontation mit Grauen und Tod, verschmolzen diese vielfältigen Eindrücke zu der wachsenden Überzeugung, daß die marxistische Theorie zur Beschreibung der tatsächlichen "condition humaine" versagt habe.
Zunächst suchte de Man einen persönlichen Ausweg aus der Krise, wollte Europa den Rücken kehren. Im Herbst 1919 übernahm er die Leitung einer Expedition nach Neufundland. Anschließend versuchte er, in den USA Fuß zu fassen. Er erkannte aber bald, daß auch das gelobte Land der Freiheit seinen Zenit überschritten hatte, und er dort nur "als Diener des Mammons" hätte leben können. So kehrte er nach Belgien zurück, wo ihm die Leitung einer neugegründeten Arbeiterhochschule angetragen worden war. In dieser Zeit zerbrach seine Ehe, die er in jugendlichem Überschwang mit einer einfachen Arbeiterin eingegangen war. Im Herbst 1922 ging er nach Deutschland, um sich in der Nähe von Darmstadt in Zurückgezogenheit einige Jahre lang dem Studium als Privatgelehrter und der schriftstellerischen Arbeit zu widmen.
Vor diesem Hintergrund erscheint 1925 im Verlag Eugen Diederichs das Buch "Zur Psychologie des Sozialismus (137). De Man unterzieht darin die marxistische Theorie aus psychologischer Sicht einer überaus scharfen und intelligenten Kritik. Zum Beispiel hält er ihr vor, daß sie bislang keinen Beitrag zur Klärung der Frage geliefert habe, auf welche Weise sich bei der Arbeiterschaft die psychologischen Vorgänge vollziehen, die von bestimmten Klassenverhältnissen zu bestimmten Klassenanschauungen führen. Für die Kommunisten wie auch für Kautsky sei das Klassenbewußtsein eine Art mystische Offenbarung, etwas potentiell Schlummerndes, das allenfalls verschüttet sei und nur noch befreit zu werden brauche. In ihrem "rationalistischen Aberglauben" ließen sie die Erkenntnis der Empfindung vorangehen, statt die tatsächliche Gefühlslage und affektive Willensrichtung der Arbeiter aus deren Lebensverhältnissen abzuleiten.
Mit einem psychologischen Gesetz, das Wundt als "Heterogonie der Zwecke" bezeichnet hat, begründet de Man, weshalb sich jedes Motiv etwa das sozialistische - unter dem Einfluß einer vom Motiv ausgelösten Tätigkeit verschieben muß. Diese Verschiebung erfolge hauptsächlich in den Tiefen des unterbewußten Affektlebens, so daß jeder Mensch, der sie erleide, den Formen seines Denkens und seiner Ausdrucksweise durchaus getreu bleiben könne, während er in seinem tieferen Wesen, besonders in seinen gewohnheitsmäßigen Gefühlswertungen, bereits ein ganz anderer geworden sei. Genau wie der Einzelmensch erlägen auch Parteien, Kirchen und öffentliche Gewalten diesem Vorgang - eine Erklärung dafür, weshalb Machtstreben zum Selbstzweck wird, Parteien verbürokratisieren und lebendige Überzeugung in der Orthodoxie erstarrt.
In der Konsequenz könne ein großes Ziel wie der Sozialismus nie geradlinig erreicht werden, sondern immer erst durch mehrere Gestaltungen hindurch. Die ursprüngliche Idee müsse sich immer wieder erneuern, gleich einem Feuer, bei dem es nicht auf die Erhaltung der Asche, sondern der Flamme ankommt. Um diese Kontinuität zu gewährleisten, müsse der erstrebte Zweck bereits im angewandten Mittel zum Ausdruck kommen. Grundsätze und Taktik dürften sich nicht widersprechen. Es sei ein gefährlicher Trugschluß, etwa Demokratie durch Diktatur oder Frieden durch Krieg herbeiführen zu wollen. Die sozialistische Bewegung müsse in ihrer Theorie und Praxis ebenso human und liberal sein wie das gesellschaftliche Ziel, das sie anstrebe.
In der Quintessenz gelangt de Man zum selben Standpunkt wie Bernstein, für den das sozialistische Ziel nichts und die Bewegung alles ist:
"Wenn der Sozialismus als Bewegung überhaupt einen Sinn hat, so ist es der, die Menschen, die an dieser Bewegung teilnehmen, glücklicher zu machen. Das Glück kommender Geschlechter ist dabei nur ein imaginär-ideeller Tatbestand, der nur insofern realen Wert hat, als der Glaube an ihn dazu gehört, diese Gegenwartsaufgabe zu erfüllen. Das einzige, was wir vom Sozialismus wissen können, ist das, was schon ist. Das ist die Bewegung, die ungeheure Summe der Einzelhandlungen, die schon heute andere gesellschaftliche Beziehungen zwischen den Menschen, andere seelische Tatbestände, andere Lebensnormen und Einrichtungen schaffen. Das Wesentliche am Sozialismus ist der Kampf um ihn."
Dies sind nur einige der Grundlinien des Buches, in dem de Man anhand vieler kenntnisreicher Beispiele den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der vulgärmarxistischen Ideologie aufzeigt. So stellt er fest, daß die sozialistischen Ideen keineswegs dem Klasseninteresse des Proletariats entsprungen, sondern außerhalb und historisch sogar vor der Arbeiterklasse entstanden seien. In der Idealisierung des Proletariats entdeckt er das Gegenstück zur Romantisierung der ländlichen Bevölkerung durch die herrschenden Kreise im 18. Jahrhundert. Der klassenbewußte, das Morgenrot der neuen Zeit grüßende Arbeiter der marxistischen Agitation entspreche dem realen Arbeiter etwa so wie die Schäfer auf den Bildern Watteaus ihren Pendants in der Wirklichkeit. Er wirft dem Marxismus seine Vergötterung der "Massen" und die unablässige Beschwörung eines dumpfen Kollektivgeistes vor. In der Sportbegeisterung, in der sich auch die Arbeiterbewegung überschlägt, erkennt er "die psychologische Komplementärerscheinung des eintönigen, geist- und persönlichkeitstötenden Arbeitsalltags".
Der Internationalismus der Arbeiterbewegung, der im Ersten Weltkrieg wie eine Attrappe umkippte, enthüllt sich de Man als der Kosmopolitismus eines längst vergangenen liberalen Zeitalters, der nur noch in der damals entstandenen marxistischen Ideologie fortlebe. Auf ähnliche Weise wiederhole sich im Determinismus des marxistischen Geschichtsbildes das mechanistische Weltbild des 19. Jahrhunderts. Die besonderen Gesetze der psychologischen Beziehung zwischen Reiz und Empfindung würden dabei verkannt und immer noch durch das Modell der mechanischen Reaktion ersetzt. Generell würden sich in der marxistischen Ideologie die Abstraktionen verselbständigen. Sie würden ein Eigenleben gegenüber der konkreten Realität führen, aus der sie einst abgeleitet wurden, und schließlich sogar das reale Leben im Wege des Wunschdenkens vergewaltigen. "Überall ist nur tödlich-ernste Wissenszuversicht, nirgends Ehrfurcht vor der Wucht des Nicht-Erkennbaren und Demut vor den Möglichkeiten des Irrtums."
De Man stellt weiter fest, daß der Vulgärmarxismus weniger an den Intellekt als an die Ressentiments der Massen appelliere. Er bestärke sie in der Gleichsetzung von Lebenserfüllung mit materiellen Werten und untergrabe gerade dadurch die ideelle Grundlage des Sozialismus. Zugleich verschließe er sich aber der Einsicht, daß der Glaube an die Identität von Glück und Reichtum erst auf einer bestimmten Stufe des Wohlstandes überwunden werden könne und somit der Weg der Massen zum Sozialismus zwangsläufig erst einmal von proletarischer Besitzlosigkeit zum kleinbürgerlichen Spießertum führen müsse. Er vergröbere die Dialektik zur Schwarzweißmalerei, zum melodramatischen Gegensatz von Held und Verräter, zur einfachen Polarität von der bösen Gegenwart und der guten Zukunft. Das dialektische Denken werde damit auf die unterste Stufe des Denkens überhaupt, nämlich die der Symbolik gedrückt. Indem das rationale Denken seine eigene Art und höhere Bestimmung verleugne, um sich der primitiven Natur der Massenempfindungen anzupassen, liefere es sich einer Kraft aus, die größer als die eigene sei. Statt zu lenken, werde es nunmehr selbst gelenkt.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß de Man hier reale Probleme der marxistischen Theorie und Praxis anspricht. Seine Ausführungen wirken geradezu prophetisch, wenn sie auf den Stalinismus bezogen werden, der sich wenig später in der Sowjetunion herausbildet und den Marxismus vollends zur Ersatzreligion pervertiert. "Der Satz von der Diktatur als Übergangsstadium verkennt die Grundtatsache, daß es keine Diktatur gibt ohne Diktatoren, und daß, wer es zum Diktator gebracht hat, auch ungern die Diktatur aufgibt", schreibt de Man ahnungsvoll. "Wenn die Diktatur so lange dauert, wie es etwa der russische Kommunismus für sich selber in Anspruch nimmt, dann sind die Menschen, die die Diktatur fortführen, nicht mehr dieselben, die sie angefangen haben; denn Diktatorenmaterial wird schnell verbraucht Die Nachfolger sind dann neue Menschen, die in einer anderen geistigen Umgebung aufgewachsen sind als die, woraus das ursprüngliche Ziel entstand; was dem erobernden Vorgänger tatsächlich nur Mittel war, wird dem verwaltenden Nachfolger zum Zweck. Wer dazu neigt, die Bedeutung dieser Tatsache zu unterschätzen, der vergleiche die Atmosphäre des heutigen Bureaukratenregimes im Moskauer Kreml mit der der Sturm- und Drangperiode, die Lenin zur Macht führte."
Die Berechtigung und entsetzliche Bestätigung der hier geübten Kritik darf allerdings nicht verdecken, daß sie die marxistische Ideologie nicht in ihrem humanistischen Kern trifft, sondern im Gegenteil diesem Kern verpflichtet ist. Während de Man "den bewußten Gegensatz meiner Denkweise zu der marxistischen in schärfster Form betont", bezweifelt er zugleich, "ob es möglich ist, meine Anschauung des Sozialismus ganz zu verstehen, wenn man nicht über den Marxismus zu ihr gelangt ist". Er will sein Buch auch ausdrücklich nicht als Auseinandersetzung mit Marx verstanden wissen. Es komme ihm allein darauf an, wie Marx in der Gegenwart verstanden werde.
Sein Ansatz bringt de Man in enge Nachbarschaft zur "Wissenssoziologie", wie sie zur selben Zeit Karl Mannheim ebenfalls aus der marxistischen Denkweise heraus begründet. Und wie die Wissenssoziologie kämpft das, was bei de Man "Wissenspsychologie" genannt werden könnte, mit einem unlösbaren Problem, nämlich einem Relativismus, der nicht nur die marxistische Ausgangsbasis relativiert, sondern konsequenterweise zugleich sich selbst relativieren muß und so in einen unendlichen Circulus vitiosus verfällt. In der Praxis wird die Relativierung der Relativierung natürlich nicht ins Unendliche fortgesetzt, sondern läuft auf Subjektivismus hinaus.
De Man erkennt dieses Dilemma zum Teil: "Was ich über die Notwendigkeit gesagt habe, die relative Wahrheit des Marxismus zu überwinden, das wird auch einmal für das gelten, was mir als Wahrheit dieser Zeit gilt. Auch diese Wahrheit wird einmal falsch geworden sein, wird einmal überwunden werden müssen." Es sei indessen ein Trugschluß, daß mit der Feststellung der Relativität allen Wissens der Begriff der Wahrheit überhaupt zerstört werde.
Das unlösbare Problem des Relativismus liegt darin, daß das ideologische Moment, dem die Kritik gilt, unweigerlich ein ideologisches Moment in der eigenen Sichtweise provoziert. Dabei ist es völlig egal, ob etwa ein psychoanalytisch orientierter Wissenssoziologe den Marxismus aus der Sublimierung der Libido von Karl Marx ableitet, oder ob ein marxistisch orientierter Kollege die Sublimierungs-Theorie als bewußtseinsmäßiges Produkt der kleinbürgerlichen Klassenlage Freuds enthüllt, oder ob ein Dritter zu der Erkenntnis kommt, daß beide zu gewissen Teilen Recht haben. - Die jeweilige Art des Herangehens fußt letztlich immer auf ideologischen Prämissen, die apriorischer Natur sind.
Bei de Man wird dieses ideologische Moment in den psychologischen Theorien deutlich, derer er sich bedient, um den Vulgärmarxismus zu kritisieren. Eine hervorragende Rolle spielt dabei zum Beispiel ein angeblicher "Geltungstrieb" des Menschen. Dieser Geltungstrieb ist offenbar psychoanalytischen Ursprungs und der Theorie Alfred Adlers vom "Minderwertigkeitskomplex" entlehnt. Er wird apriorisch eingeführt und erklärt so, weshalb die marxistische Theorie, die diesen Trieb nicht kennt, immer wieder aus dem Ruder läuft. Nach demselben Muster werden eine ganze Reihe psychologischer Gesetze und Tatsachen herangezogen, ohne ihrerseits in Frage gestellt zu werden. Man kann sich am Ende nicht des Eindrucks erwehren, daß der ganze psychologische Eklektizismus von Adler bis Wundt nur dazu dient, einer Kritik aus dem Geist des "common sense" als wissenschaftliche Einkleidung zu dienen.
De Man ist sich des hermeneutischen Ansatzes seiner Kritik bewußt. "In der Tat ist dieses Buch nichts anderes als ein Stück geistiger Biographie", bekennt er im Vorwort. "Die Überwindung der marxistischen Denkweise, die ich hier vertrete, habe ich zuerst an mir selber vollziehen müssen." An anderer Stelle betont er, daß die intuitive Erfassung eines Problems dessen logisch-rationaler Formulierung vorausgehen müsse. - Wenn er freilich annimmt, daß der hermeneutische Zirkel mit der marxistischen Denkweise unvereinbar sei, sie gar überwinde, erliegt er einem Mißverständnis: Jene Teile der marxistischen Theorie, die er in Frage stellt - vom Kosmopolitismus über den Fortschrittsgedanken bis zur Verelendungstheorie - sind nämlich ihrerseits hermeneutischer Natur; sie waren keine originären Schöpfungen von Marx und Engels, sondern gehörten zur allgemeinen Denkweise ihrer Zeit, zum Selbstverständnis der liberalen Epoche. De Man kritisiert also, von der Erfahrung der nächsten und übernächsten Generation ausgehend, hermeneutische Bestandteile der marxistischen Theorie, die inzwischen obsolet geworden sind, da der Erfahrungshorizont eines Menschen im 20. Jahrhundert notwendigerweise ein anderer ist als im 19. Jahrhundert. Die philosophischen Grundlagen der marxistischen Theorie erschüttert er damit jedoch nicht. Denn diese liefern, wie schon Engels klarstellte, "keine fertigen Dogmen, sondern Anhaltspunkte zur weiteren Untersuchung, und die Methode für diese Untersuchung (138).
De Man vermeint so die marxistische Theorie zu überwinden, während er nur der Sentenz von Marx, daß die Wahrheit immer konkret sei, zu ihrem Recht verhilft. Er verwertet seinen hermeneutischen Vorsprung gegenüber Marx und gelangt so unweigerlich zu einer Kritik an hermeneutischen Ausgangspunkten der "Klassiker". Der marxistischen Methode ist er dabei näher, als er denkt. Er merkt es nur nicht, weil er sie mit dogmatisch erstarrten Bestandteilen ihrer Anwendung verwechselt. An die Stelle der mitunter fragwürdigen psychologischen Einkleidung seiner Kritik könnte auf der philosophischen Ebene genauso und noch besser eine verfeinerte Dialektik treten.
Die erstmalige Veröffentlichung der "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" im Jahre 1932 bestärkt de Mans eigene Zweifel, ob er sich tatsächlich vom Marxismus entfernt habe. In einer ersten Besprechung des Werkes unter dem Titel "Der neuentdeckte Marx" findet er darin dieselben ethisch-humanistischen Motive wieder, die ihn bei seiner eigenen Arbeit beflügelt hatten. Es bleibe freilich eine offene Frage, ob man diese "humanistische Phase" als später überwundene Vorstufe oder als bleibenden Bestandteil der Marxschen Lehre betrachten solle: "Entweder gehört dieser humanistische Marx zum Marxismus, und dann muß sowohl der Marxismus von Kautsky wie der von Bucharin gründlich umrevidiert werden; oder er gehört nicht dazu, und dann gibt es einen humanistischen Marxismus, auf den man sich gegen den materialistischen Marxismus berufen kann." (139) - Für die Vertreter der Orthodoxie Grund genug, de Man als Urheber des Versuchs zu betrachten, den jungen gegen den alten Marx auszuspielen. "Der wissenschaftliche Sozialismus soll unter dem Deckmantel einer Rückkehr zum 'wahren' Marx seines revolutionären, klassengebundenen, materialistischen Gehalts beraubt werden", polterte etwa der sowjetische Parteiphilosoph T. I. Oiserman (140).
Tatsächlich lehnt de Man die immanente Verwurzelung des Sozialismus im Klassenkampf ab. Er gelangt statt dessen zu einer Motivlehre, die sozialistische Gesinnung nicht aus dem Bewußtsein von Klasseninteressen, sondern aus dem psychologischen Konflikt zwischen historisch gewordenen Wertmaßstäben und sozialen Umweltverhältnissen ableitet. Aber auch dieser Konflikt fügt sich in die marxistische Dialektik von Sein und Bewußtsein, die dem Klassenkampf, den de Man irrigerweise für "die Grundidee des Marxismus" hält, durchaus übergeordnet ist. Außerdem erhebt sich die Frage, ob das, was Marx im Begriff des Klassenkampfes abstrahiert, nicht eben eine Erscheinungsform dieses Konfliktes ist.
Daß de Man die Bedeutung der Ideen und der Intellektuellen als Träger dieser Ideen überschätzte - und insoweit von der Psychologie in den Psychologismus verfiel - steht auf einem anderen Blatt. Damit erklärt sich auch seine relative Enttäuschung über die Wirkung des Buches. Das Werk wurde zwar ein überraschend guter Erfolg, wozu nicht zuletzt Rezensionen durch Hermann Keyserling und Theodor Heuss beitrugen. Es wurde in kurzer Zeit zweimal aufgelegt und in zwölf Sprachen übersetzt. In sozialistischen Kreisen löste es heftigen Widerspruch aus, wobei an der Spitze der Kritiker der alte Kautsky stand. Dennoch mußte der Verfasser feststellen, "daß die praktischen Wirkungen meines Buches auf die Bewegung weder dem Aufsehen entsprachen, das es hervorrief, noch der Zahl der Leser, die es in so vielen Ländern gefunden hat". Es entging ihm auch nicht, "daß mein Buch viel mehr, als mir recht war, bei einer Kategorie Leser Erfolg hatte, denen es nur um eine Art sozialistischen Pietismus, um eine 'zweite Religiosität' der Bewegung zu tun war". Dieser Effekt mußte den Vorwurf seiner sozialistischen Kritiker bestätigen, daß er die Übel der Zeit lediglich mit der "Moralinspritze" zu kurieren versuche (141).
In der Tat krankt die durchaus legitime und notwendige Einführung der Psychologie in den Marxismus bei de Man an einem ähnlichen Fehler, wie ihn später Erich Fromm im Umkreis der "Sexpol"-Bewegung begehen wird: Die Psychologie wird in Gestalt von angeblich angeborenen Trieben und Handlungsgesetzen dem "Unterbau" der Gesellschaft statt dem "Überbau" zugewiesen. Dies kommt auch in seiner bereits zitierten Bemerkung zum Ausdruck, daß er die Bewußtseinsvorgänge "in ihrer Beziehung zum Unterbewußten eher als Überbau" betrachte. Demnach würden zumindest die "tiefenpsychologischen" Kategorien dem Unterbau zugeschlagen. Elemente des Bewußtseins werden so mit denen des Seins verwechselt und die Abhängigkeit zwischen beiden auf den Kopf gestellt. Letztlich wird so die marxistische Philosophie durch Psychologie ersetzt statt durch sie bereichert. Diese Fehltritte im Bereich der Abstraktion verblassen aber vor dem Verdienst de Mans, die konkreten Mängel und Gefahren des Vulgärmarxismus frühzeitig erkannt und vor ihnen gewarnt zu haben.