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Arkadien |
Die Verspottung der Ritter- und Schäferromane zeugte davon, daß sich das Genre in einer Krise befand. Arkadien überlebte jedoch den Spott. Die Glorifizierung des Mittelalters hat später sogar noch größere Triumphe gefeiert. Der Traum verlor nur seine ursprüngliche Naivität. Er wurde elegisch und reflexiv. Der fortdauernden Sehnsucht beigemengt war fortan ein Hauch manieristischer Gebrochenheit.
Et in arcadia ego schrieb zu Anfang des 17. Jahrhunderts der italienische Maler Giovanni Francesco Guercino unter einen am Boden liegenden Totenschädel, den zwei junge Hirten ergriffen betrachten. 1 Die lateinische Inschrift will sagen, daß der Tod auch um Arkadien keinen Bogen macht. Sie gemahnt die beiden Hirtenknaben an die eigene Vergänglichkeit. Insofern handelt es sich um das vertraute "memento mori". Durch den Bezug auf Arkadien anstelle des realen Lebens erhält dieses Gedenken der Vergänglichkeit alles Irdischen jedoch eine neue Bedeutung: Es symbolisiert den Katzenjammer des manieristischen Lebensgefühls nach dem Rausch der Renaissance. Die Sehnsucht nach Arkadien trägt hier bereits deutlich gebrochene Züge. Jenes Bewußtsein, das sich mit der Erschaffung Arkadiens von der unbefriedigenden Gegenwart distanzierte, unternimmt nunmehr einen weiteren reflexiven Schritt, indem es zu seinem eigenen Geschöpf auf Distanz geht.
Einige Jahrzehnte später findet sich dieselbe Inschrift auf zwei Gemälden des französischen Malers Poussin. Auf dem ersten Bild, das um 1630 entstanden sein dürfte, sind drei Hirten und eine Schäferin unerwartet auf ein Grab gestoßen: Sichtlich aufgewühlt und bestürzt studieren sie die Inschrift des steinernen Sarkophags. Fast dieselbe Szene zeigt das zweite Bild, das Poussin etwa 15 Jahre später malte. Die Hirten und ihre Begleiterin wirken hier aber keineswegs aufgewühlt und bestürzt, sondern elegisch und kontemplativ. Die Szene ist von einer fast heiteren Ruhe. Aus dem Sarkophag ist ein Grabmal geworden, und der Totenkopf, der in der ersten Fassung auf dem Sargdeckel zu sehen war, ist gänzlich aus dem Bild verschwunden. Das "memento mori" hat sich in eine sanfte Elegie verwandelt.
Die zweite Fassung signalisiert den endgültigen Triumph des barocken Lebensgefühls. Weitere hundert Jahre später erkor sich dann die Epoche der Empfindsamkeit das Bild von Poussin zu einem ihrer Lieblingsmotive. Es wurde zwischen 1765 und 1780 sehr oft in Stichen verbreitet. Diderot empfand es als erhaben und zugleich ergreifend, wie Poussin den Blick des Betrachters von der heiteren ländlichen Szene auf das Grabmal lenke. 2
Mit der Wandlung des Motivs ging eine Neuinterpretation der Inschrift einher: "Et in arcadia ego" wurde nun nicht mehr auf den Tod, sondern auf dem mutmaßlichen Urheber der Inschrift bezogen. An die Stelle der korrekten Übersetzung "Selbst in Arkadien gibt es mich" (nämlich den Tod) trat die falsche Deutung Auch ich war in Arkadien.
Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky hat diesen Interpretationswandel überzeugend dargelegt. Wie er feststellte, wird die bis heute verbreitete Übersetzung "Auch ich war in Arkadien" dem Originaltext bzw. der lateinischen Grammatik nicht gerecht. Sie sei vielmehr erst durch Poussins zweites Bild nahegelegt worden. Ihren Urhebern lasse sich deshalb immerhin zugute halten, daß sie zwar der lateinischen Grammatik Gewalt antaten, doch der neuen Bedeutung von Poussins Komposition Gerechtigkeit widerfahren ließen. 3
In der falschen Interpretation wurde "et in arcadia ego" zum geflügelten Wort. Die neue, elegische Komponente, die durch Poussins Bild mitbegründet wurde, klingt zum Beispiel deutlich bei Schiller an, wenn er das Gedicht "Resignation" (1786) mit den Worten beginnen läßt: Auch ich war in Arkadien geboren. Eine eher utopische Interpretation findet sich zur selben Zeit (1785) bei Herder: Auch ich war in Arkadien ist die Grabschrift aller Lebendigen in der sich immer verwandelnden, wiedergebärenden Schöpfung.
In Deutschland hat sich die von Italien ausgehende Schäferei erst spät und nur in bescheidenem Maße verbreitet. Das Haupthindernis dürfte die Reformation gewesen sein, die das Erbe des alten Glaubens beanspruchte und Ersatzphantasien aller Art abhold war. Ihrem Geist der Verinnerlichung war die bild- und leibhafte Ausmalung Arkadiens fremd. Wo es ihr jedoch gelang, das arkadische Motiv in seiner elegisch gewandelten Form genügend zu verinnerlichen, gestaltete sie es mit visionärer, die Gegenwart weit überdauernder Kraft.
Davon zeugen etwa, abseits aller vordergründigen Schäferei, die Gedichte des Andreas Gryphius (1616-1664) mit ihrer tragisch grundierten Sehnsucht nach einer glücklicheren, friedvollen Welt. Unverkennbar arkadische Landschaften beschwören auch die Lieder des protestantischen Kirchenlieddichters Paul Gerhardt ("Geh aus mein Herz und suche Freud..."), die teilweise zu Volksliedern wurden und bis heute lebendig geblieben sind. Gleiches gilt für spätere Vertreter einer pietistisch-gemütvollen Dichtung wie Matthias Claudius ("Der Mond ist aufgegangen...").
Die ohnehin schwach entwickelte Schäferei der deutschen Literatur wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Opfer des sich anbahnenden Sturm und Drang. Den Wendepunkt markierte die Kritik, die Herder in seinen 1767 erschienenen Fragmenten "Über die neuere deutsche Literatur" an dem Schweizer Dichter Geßner übte, der damals der bekannteste Repräsentant der deutschen Schäferdichtung war und vielfach als der bedeutendste Vertreter der deutschen Literatur überhaupt galt:
Ein Schäfer mit höchst verschönerten Empfindungen hört auf, Schäfer zu sein, er wird ein poetischer Gott: das ist nicht mehr ein Land der Erde, sondern ein Elysium der Götter: er handelt nicht mehr, sondern beschäftigt sich höchstens, um seine Idealgröße zu zeigen: er wird aus einem Menschen ein Engel: seine Zeit ein gewisses Figment der goldenen Zeit.
Herder vermißte am Schäferideal das aktive, tätige, auf die Veränderung der Gegenwart bezogene Moment: Statt zu handeln, beschäftigen sie sich, singen und küssen; trinken und pflanzen Gärten. Der Stammvater der Schäferdichtung, Theokrit, sei auch viel politischer und gegenwartsnaher gewesen als sein Schweizer Nachfahre Geßner, glaubte Herder zu wissen. Das ganze goldene Zeitalter, in welches die Schweizer die alten Schäfer setzen, ist also eine schöne Grille. 4
Herder hatte damit sicher kein Plädoyer für eine illusionslose Sichtweise im Sinn. Er wollte im Grunde weder Arkadien noch das goldene Zeitalter ächten. Die Illusion war ihm lediglich zu schal. Er wollte sie mit anderen Figuren bevölkern; mit Gestalten, die eben mehr als "eine schöne Grille" sind, mehr als ein unverbindlicher Traum vom schöneren Leben. Diese Gestalten glaubte er im realen Fundus der Geschichte zu finden. Herder war überzeugt davon, daß wir unsere Literatur nicht edler und ursprünglicher bereichern, als wenn wir die Gedankenschätze eines Volkes erwerben und daß ein Ossian gegen Homer, und ein Skalde gegen Pindar gestellt, keine unebne Figur machen. 5
Daß auch der Skalde Ossian nur eine schöne Grille war - im Unterschied zur holden Illusion Arkadiens sogar ein handfester Betrug, die größte Fälschung der Literaturgeschichte - ahnte Herder damals noch nicht.
Auch anderswo bahnte sich um diese Zeit der Niedergang Arkadiens an. Schon über den Landschaften Bouchers, Fragonards oder Watteaus waltete etwas Melancholisch-Düsteres. Der Kontrast zur Idylle, den bei Lorrain die antike Ruine setzt, wurde hier durch die wildbewegte, eher dräuende als anmutige Landschaft des Hintergrunds besorgt. Das Heroische wurde aus der zeitlichen in die räumliche Dimension verlagert, in die Gegenwart mit hinein genommen. Es wurde so mit dem Arkadischen konfrontiert, um es schließlich gänzlich zu überwältigen.
Voltaire schrieb um diese Zeit seinen Candide. Der Held des satirischen Werks ist von einer naturwüchsigen Unschuld und Naivität. In diesem geistigen Schäferkostüm schickt ihn Voltaire auf die Reise durch die Realität - angeblich eine harmonisch prästabilisierte Welt, in der alles seinen hinreichenden Grund und seine natürliche Zweckbestimmung hat. Die Reise durch dieses Arkadien, wie es in der zeitgenössischen Philosophie von Pope bis Leibniz anklingt, wird für Candide zur Höllenfahrt. Am Ende ziehen sich Candide und seine Gefährten mit ihren erlittenen Blessuren in eine kleine Meierei zurück - Karikatur Arkadiens - und schwören allem Räsonieren ab, um nur noch ihren Garten zu bestellen.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verschwand das arkadische Motiv aus allen Bereichen der Kunst. Die Schäferspiele, die Marie Antoinette im Park von Versailles veranstaltete, waren ein letzter höfischer Selbstbetrug. Der dritte Stand war nicht mehr bereit, sich mit Träumen von Arkadien abspeisen zu lassen. Seine Träume waren heroischer, handlungsbereiter, gegenwartsnäher. Ihren Interpreten fanden diese Träume in Jacques Louis David, der 1784 den "Schwur der Horatier" malte: Eine heroische Szene vor intakten antiken Rundbögen. Die Landschaft ist vollkommen weggelassen.
Nichts Arkadisches hatten auch Paris und Helena,die David 1788 malte: Das Liebespaar posiert in einem antiken Vestibül und wirkt so kühl wie seine marmorne Umgebung. Nur noch die Lyra, die Paris in der Hand hält, erinnert an seine bukolische Vergangenheit als Hirte, auf die Claude Lorrain und andere Maler in dem beliebten Standard-Motiv Das Urteil des Paris abgehoben haben. Dafür trägt der Paris auf Davids Bild eine phrygische Mütze - jenes Requisit, das als Jakobinermütze zum Symbol der französischen Revolution werden sollte.