PresseBLICK-Rezensionen Natur- und Geisteswissenschaften



Hans-Peter Dürr

Das Netz des Physikers - Naturwissenschaftliche Erkenntnis in der Verantwortung

München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990, 497 S., DM 18.80


Der Autor ist Geschäftsführender Direktor des Werner-Heisenberg-Instituts am Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik in München. Die Öffentlichkeit kennt ihn durch vielfaches Auftreten bei Veranstaltungen, die Begründung des "Global Challenges Network" und die 1987 erfolgte Auszeichnung mit dem Alternativen Nobelpreis.

Das vorliegende Buch umfaßt zahlreiche Artikel und Vorträge Dürrs aus den Jahren 1975 bis 1987, darunter auch Unveröffentlichtes wie die "Konzepte für eine langfristige Energieversorgung". Die ersten acht Beiträge behandeln philosophische Aspekte der Physik. Zwei davon sind zugleich eine Hommage für seinen langjährigen Mentor Werner Heisenberg, der Dürrs Sichtweise nachhaltig geprägt hat. Die folgenden zehn Artikel betreffen ethische Fragen der Wissenschaft, wobei vor allem auf die Risiken der Kernenergie und mögliche Alternativen abgehoben wird. Den Schluß bilden 13 Aufsätze und Reden zur Friedenspolitik. Zum Beispiel findet man hier Dürrs Warnungen vor dem SDI-Projekt. Nach dem Wegfall der militärischen Konfrontation zwischen den ehemaligen Blöcken können diese Beiträge allerdings wohl nicht mehr die ursprüngliche Aktualität beanspruchen.

Der Titel "Das Netz des Physikers" ist erkenntnistheoretisch zu verstehen. Er bezieht sich auf eine Parabel des englischen Astrophysikers Sir Arthur Eddington. Danach gleicht der herrschende Typ des Naturwissenschaftlers einem Fischer, der nach wiederholtem Auswerfen seiner Netze und gewissenhafter Sichtung des Fanges zu der Schlußfolgerung gelangt, daß alle Fische größer als fünf Zentimeter sind. Auf den Einwand, daß die Maschenweite seines Netzes eben nur fünf Zentimeter betrage, antwortet er: "Was ich mit meinem Netz nicht fangen kann, liegt prinzipiell außerhalb fischkundlichen Wissens." Dieser Fischer ist nämlich eine Karikatur des neopositivistischen Wissenschaftsverständnisses und argumentiert deshalb wie Wittgenstein oder Popper.

Abschied vom Wissenschaftsglauben

Dürr ist demgegenüber der Meinung, daß es durchaus verschiedene Arten der Erkenntnis und des Zugangs zur Wirklichkeit gibt, seien sie wissenschaftlicher, künstlerischer oder religiöser Art. Er hält es ohnehin für eine Illusion, die Natur als solche erkennen zu können, wie noch die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts in ihrem naiven Realismus geglaubt habe. Wenn sich "das Netz des Physikers" oder ein sonstiges wissenschaftliches Instrumentarium in der Erfahrung bewährt, so beweist dies für ihn nicht viel mehr, als daß es eben die notwendigen Voraussetzungen dieser Erfahrung definiert.

So neu ist diese Sichtweise nicht. Schon Kant und Hegel haben ähnliches über die subjektive Bedingtheit und die grundsätzliche Beschränktheit wissenschaftlicher Erkenntnis geäußert. Beide haben auch schon die Unverrückbarkeit von Raum und Zeit in Frage gestellt. Relativ neu ist aber, wie Dürr diese philosophischen Spekulationen nunmehr mit Hilfe der modernen Physik untermauert. Hier, beim Brückenschlag zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, ist er in seinem Element und zeigt sich als scharfsinniger Analytiker und Interpret jenes "Paradigmawechsels", der zu Anfang dieses Jahrhunderts die Physik erfaßt hat.

Nach gängiger Meinung haben die Erkenntnisse von Planck, Einstein oder Bohr zugleich unser gesamtes Weltbild verändert. Dürr ist da anderer Ansicht. Er meint, daß dieser Paradigmawechsel noch lange nicht Allgemeingut geworden sei. Auch viele Naturwissenschaftler seien sich noch nicht der prinzipiellen Beschränktheit ihrer Wirklichkeitserfassung bewußt geworden: Sie dächten noch in den Kategorien des 19. Jahrhunderts. Trotz Quantenmechanik und Relativitätstheorie erscheine ihnen die Welt noch immer als eine Art großes Uhrwerk, das sich analytisch in seine Teile zerlegen und entsprechend aus der Summe seiner Teile als Ganzes zusammensetzen läßt.

Aus quantenmechanischer Sicht gibt es jedoch, wie Dürr darlegt, keine zeitlich durchgängig existierende, objektivierbare Welt. Die Welt ereignet sich gewissermaßen in jedem Augenblick neu. Statt sich in alter Manier die Zukunft als determinierte Verlängerung von Gegenwart und Vergangenheit vorzustellen, schlägt Dürr deshalb eine Umkehrung der Blickrichtung vor: Die Zukunft gleicht dabei einem "unstrukturierten Lösungsbad", aus dem sich die "stetige Ausformung von Möglichem zu Tatsächlichem" an der Schnittfläche der Gegenwart vollzieht und als Vergangenheit verfestigt. Nur die Vergangenheit ist unverrückbar festgelegt. Sie vermag die Zukunft zwar in gewisser Weise zu präjudizieren, aber nicht eindeutig zu bestimmen, weil es aus quantenmechanischer Sicht eine substantielle Identität von vergangenen und künftigen Welten nicht geben kann. Die Zukunft bleibt somit prinzipiell offen und unbestimmt.

Das Bedürfnis nach Transzendenz

Für Dürr sind, wie für seinen Lehrer Heisenberg, Wissen und Glauben, Physik und Religion, keine unversöhnlichen Gegensätze. Er sieht in ihnen unterschiedliche, sich aber ergänzende Grundhaltungen, die in fruchtbarem Wechselspiel die europäische Kultur hervorgebracht haben. Er meint, daß die Dominanz der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise uns heute "den Blick auf das Transzendentale und seine Notwendigkeit für unser Leben" verstellt.

Die oft beklagte Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit interpretiert Dürr als Reaktion auf dieses Defizit. Sie richte sich nicht gegen Wissenschaft und Technik an sich, sondern gegen eine "sich immer weiter aufsplitternde und zerbröselnde Gedankenwelt". Diese komme im Gewand von Wissenschaft und Technik daher und ziehe deshalb verständlichen Unmut auf sich. Für Dürr entstammt dieses Gewand aber letzten Endes der Mottenkiste des vorigen Jahrhunderts. Es repräsentiert für ihn nicht das tatsächliche Erkenntnisniveau der Wissenschaft, das sich längst vom naiven Realismus entfernt und mit der Verwerfung des Determinismus neue Möglichkeiten der Sinnsuche und Wertsetzung eröffnet habe. Dürr glaubt zu wissen, daß der Mensch, um handeln zu können, einer über wissenschaftliche Erkenntnisse hinausgehenden Einsicht, der "Führung durch das Transzendente" bedarf.

Dürrs Befund deckt sich mit Prognosen, die eine Renaissance des Religiösen prophezeien, wobei diese Religiosität allerdings kaum den traditionellen Glaubensgemeinschaften zugute kommen dürfte, sondern eher privatistisch-sektiereri- schen Charakter tragen wird. "Fundamentalistische" Haltungen sind allenthalben auf dem Vormarsch. Zum Teil werden sie noch von einer Flut psychologisierender Ratgeber- und Lebenshilfeliteratur verdeckt. Obskure Erscheinungen wie "Esoterik" und "new age" zeigen jedoch die Richtung an und unterstreichen die Notwendigkeit, dieser oft erschreckend anspruchslosen Sehnsucht nach "Transzendenz" eine intelligentere Orientierung zu vermitteln. In diesem Sinn kann Dürrs Buch manchem "Fundi" nur empfohlen werden.

Dürrs Kritik der Kernenergie

Vor dem hier skizzierten philosophischen Hintergrund ist auch Dürrs Sichtweise des Energieproblems zu verstehen. Er ist zum bewußten Kritiker der Kernenergie geworden, als ihm 1975 nahegelegt wurde, einen Wissenschaftler-Appell zugunsten dieser Energiequelle an die Abgeordneten des Bundestags zu unterzeichnen. Gerade als Wissenschaftler glaubt er jedoch die Begrenztheit des spezialisierten Fachverstandes zu kennen, zumal dieser in aller Regel auch noch in ganz banale wirtschaftliche Interessen eingebunden sei. Wer eine definitive Lösung des Energieproblems gefunden zu haben glaube, sei für ihn "vermessen, nicht weise", schrieb er schon 1977 in einem vielbeachteten Aufsatz.

Ab 1986, seit der Katastrophe von Tschernobyl, engagierte sich Dürr dann vehement gegen die Kernenergie. In öffentlichen Vorträgen legte er dar, daß es für eine langfristige Energieversorgung nur zwei Wege gebe: Erstens eine extrem dezentralisierte Variante, welche die Sonnenenergie in allen möglichen Formen (direkt und indirekt) zu nutzen versucht. Zweitens eine extrem zentralisierte Variante, welche die Kernenergie mit Brütertechnik als Grundlage wählt. Angesichts des Risikos der Kernenergie könne es nur darum gehen, die "Zumutbarkeit" der Kernenergie gegen die "Realisierbarkeit" der Sonnenenergie abzuwägen. Über die streitenden Parteien hinweg lasse sich wohl sofort ein Konsens über die Forderung herstellen: "Sonnenenergie soviel als möglich, Kernenergie so wenig wie unbedingt nötig."

Dürr meint, daß eine umfassende Nutzung der Solarenergie den Verzicht auf Kernenergie ermöglichen wird, ohne den Bau zusätzlicher konventioneller Kraftwerke erforderlich zu machen. Allerdings müßten sämtliche Formen der Solarenergie - einschließlich Wasser, Wind und Biomasse - sowie alle Möglichkeit einer rationellen und vernünftigen Verwendung von Energie ausgeschöpft werden. Letzten Endes gehe es darum, grundsätzlich neue Lebens- und Wirtschaftsformen zu entwickeln, die keinen wachsenden Verbrauch an erschöpfbaren Vorräten erfordern.

Ohne Dürr in eine Schublade stecken zu wollen, kann man ihn zu den einflußreichsten Vordenkern des öko-alternativen Spektrums hierzulande zählen. Die in diesem Buch vereinigten Beiträge enthalten "in nuce" viele jener Gedanken, die oft in vergröberter und diffuserer Gestalt als Facetten des Zeitgeistes auftauchen. Man braucht deshalb Dürrs Überlegungen nicht zu teilen, um hier eine interessante Lektüre zu finden.

(PB 3/92/*leu)