PresseBLICK-Rezensionen | "Elektrosmog" |
Die Leiden eines "Elektrosensiblen"Heinz SteinigElektrosmog - der unsichtbare KrankmacherFreiburg 1994: Herder Verlag, 141 S., DM 14.80 |
In Andersens Märchen gibt es eine Prinzessin, die nicht schlafen kann, weil eine Erbse unter ihrem Bett versteckt wurde. Sie spürt die winzige Hülsenfrucht noch durch zwanzig Matratzen und Daunendecken hindurch. Am anderen Morgen klagt sie bitterlich über einen unbekannten Gegenstand, an dem sie sich grün und blau gestoßen habe.
So ungefähr muß man sich die "Elektrosensibilität" vorstellen, unter welcher der Verfasser des vorliegenden Buches leidet. Die Erbse ist dabei der sogenannte Elektrosmog - also jenes angebliche Gesundheitsrisiko, das von den elektrischen und magnetischen Feldern der Stromversorgung oder den elektromagnetischen Feldern des Funks ausgehen soll.
Im Unterschied zu einer Erbse kann man elektrische und magnetische Felder nicht sehen oder fühlen. Dennoch sind sie physikalische Realität und besitzen energetische Wirkung. Und so wie eine Erbse im Schuh nicht gerade angenehm ist, kann auch im Umgang mit Feldern - je nach Stärke und Frequenz - eine gewisse Distanz geboten sein. Aber dem Elektrosensiblen hilft alle Distanz so wenig wie der Prinzessin die zwanzig Matratzen und Daunendecken: Er spürt angeblich die winzigsten Feldstärken noch auf die größte Entfernung. Oft fühlt er sich sogar von Feldstärken gepeinigt, die von den empfindlichsten Meßgeräten nicht festgestellt werden können, weil sie im "Rauschen" untergehen.
Heinz Steinig gehört zu diesen Bedauernswerten. Er war zehn Jahre lang Nachbar einer Hochspannungsleitung. Er will dadurch "viel an Gesundheit und Lebensfreude verloren" haben und "der völligen Erblindung" nur durch den Wegzug entgangen sein. Da er genau weiß, daß seine Leiden vom Strom und nichts anderem herrühren, wurde er zum Gründer und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft "Leiden unter Spannung", die bundesweit mehrere Untergruppen sogenannter "Elektrosensibler" umfaßt.
Heinz Steinig und seine Leidensgenossen scheinen übersinnliche Fähigkeiten zu besitzen. Denn der gewöhnliche Sterbliche hat keinen Sinn für elektrische oder magnetische Felder. Im Unterschied etwa zu Zugvögeln, die sich am Magnetfeld der Erde orientieren, kann der Mensch Felder allenfalls indirekt wahrnehmen. So hat wohl jeder schon "haarsträubende" Erfahrungen beim An- oder Ausziehen eines Pullovers gemacht - eine Folge der Influenz im elektrischen Feld. Ähnliche Effekte können unter Hochspannungsleitungen auftreten. Wesentlich schwieriger ist die Wahrnehmung des magnetischen Felds. Hier bedarf es schon extremer Feldstärken, wie sie normalerweise nur im Labor erzeugt werden, um über induktiv hervorgerufene Wirbelströme in der Netzhaut sogenannte Magnetosphene (Augenflimmern) zu erzeugen.
Dieser experimentell gut untersuchte Sachverhalt ist in dem vorliegenden Buch freilich nicht gemeint. Der Autor bewegt sich vielmehr in Größenordnungen des elektrischen und magnetischen Feldes, die weit unterhalb einer indirekten Wahrnehmbarkeit durch den Menschen liegen. Dennoch behauptet er, daß solche Felder ihn und andere "Elektroallergiker" in der fürchterlichsten Weise peinigen und in ihrer Gesundheit beeinträchtigen würden.
So behauptet ein Leidensgenosse des Heinz Steinig, daß ihn die "Oszillatorstrahlung" eines Taschenradios noch auf zwei Meter Entfernung malträtiere. Auf Bürgersteigen kann er angeblich nur unter Qualen gehen, weil darunter Stromversorgungsleitungen liegen. Fernsehen kann er auch nicht, weil ihm das Gerät noch auf zehn Meter Distanz "panikartig sich ständig steigernden Schmerz" zufügt und zum "fluchtartigen Verlassen des Hauses" nötigt.
Wenn man den physikalischen Sachverhalt bedenkt, müßte der Bedauernswerte beim fluchtartigen Verlassen des Hauses eigentlich vom Regen in die Traufe geraten: Durch die hektische Bewegung seiner Gliedmaßen im Erdmagnetfeld erzeugt er in seinem Körper stärkere Ströme als sie der Fernsehapparat auf zehn Meter Entfernung influenzieren oder induzieren könnte.
Überhaupt haben sämtliche Schilderungen dieser Art den Schönheitsfehler, daß noch kein "Elektrosensibler" ausfindig gemacht werden konnte, dessen angebliche Sensibilität gegenüber Feldstärken im Nano- und Mikroteslabereich - denn in aller Regel geht es um magnetische Felder - einer wissenschaftlichen Überprüfung standgehalten hätte. Eine der wenigen Untersuchungen auf diesem Gebiet führte 1993 Olaf Plotzke von der Berliner "Forschungsgesellschaft für Energie und Umwelttechnologie" durch. In einem Doppelblindversuch testete er 17 Personen, von denen die meisten sich mit "Elektrosmog"-Ängsten an sein Institut gewandt hatten, wobei einige angaben, ausgesprochen "elektrosensibel" zu sein. Plotzke führte mit jeder Versuchsperson drei Testreihen durch, wobei er sie einem magnetischen Wechselfeld von 1 Mikrotesla zwischen 0 und 100 Hertz aussetzte. Keine der Versuchspersonen konnte halbwegs zuverlässig sagen, wann das Feld eingeschaltet war. Vielmehr entsprach das Ergebnis fast genau der rechnerischen Zufallstrefferquote.
Aber zurück zu Heinz Steinig: Seine Leidensgeschichte begann angeblich 1976, als er mit seiner Frau in ein neues Haus zog, das dicht neben einer Hochspannungsleitung stand. Acht Monate später hätten sich bei seiner Frau die ersten Beschwerden gezeigt: "Reizbarkeit, schmerzhafter Druck an den Nieren, Hautjucken und ein merkwürdiges Kribbeln am ganzen Körper." Danach hätten die Beschwerden auch bei ihm angefangen: "Flimmern vor den Augen, Augenschmerzen und plötzlicher starker Tränenfluß, schmerzhafter Ohrendruck, Übelkeit, Spannung der Schläfen, stechende einseitige Migräne, Reizbarkeit, Schwindelanfälle". Die Leiden seien ständig schlimmer geworden, bis hin zu "akuten Angstzuständen", "Depressionen" und "Grauschleier vor den Augen". Erst mit dem Wegzug von der Hochspannungsleitung habe sich beider Befinden schlagartig gebessert. Allerdings seien schwere Schäden zurückgeblieben: Seine Frau sei heute schwer nierenkrank. Er selbst sei wegen irreparabler Augen- und Gehörschäden mit 45 Jahren zum Frührentner geworden.
Wie Steinig berichtet, kam ihm der Verdacht, seine mannigfachen Beschwerden könnten auf "Elektrosmog" zurückzuführen sein, erstmals 1981. Damals geriet ihm ein Artikel über die "Elektrosmog"-Diskussion in den USA in die Hände. Er entstammte der Zeitschrift "Readers Digest". Für Steinig war dieser Artikel wie eine Offenbarung. Er verschickte ihn umgehend an Bürgermeister, Landrat, Regierungspräsidenten und Ministerien. Außerdem agitierte er als Gemeinderat, innerhalb der hessischen CDU, durch Einschaltung der Lokalpresse und Gründung einer Bürgerinitiative gegen eine weitere Hochspannungstrasse, die ebenfalls an seinem Haus vorbeiführen sollte.
Steinig unterlag aber, und die Trasse wurde gebaut. Sofern man seiner Darstellung Glauben schenken kann, hat ihn das Establishment seiner Gemeinde fortan ausgegrenzt. Nur der Pfarrer habe ihm weiterhin beigestanden. "Ich verlor mein Haus und meine Gesundheit", klagt er. "Mir wurde trotz 17jähriger Gemeinderatszugehörigkeit der Ehrenbrief des Landes Hessen verwehrt, obwohl der Anspruch darauf schon ab 12 Jahren Zugehörigkeit besteht." Dagegen habe der Bürgermeister, der beim Bau der Hochspannungsleitung ein "verläßlicher Erfüllungsgehilfe" gewesen sei, das Bundesverdienstkreuz bekommen.
Diese Darstellung ist vermutlich sehr subjektiv gefärbt. Sie vermittelt aber doch eine Vorstellung von den Umständen, unter denen bei Steinig die Gewißheit reifte, daß unsere gesamte Welt vom "Elektrosmog" bedroht sei. Denn es geht ihm ja beileibe nicht nur um sein persönliches Leiden oder nur um die Hochspannungsleitungen. Nein - sämtliche elektrischen Geräte und Leitungen verbreiten solche heimtückischen Gefahren. Überall wabert der Elektrosmog, überall werden durch ihn die "Lebensprozesse bei Menschen, Tieren und Pflanzen negativ beeinflußt".
Für Steinig gibt es praktisch keine Krankheit , die sich nicht mit dem "Elektrosmog" in Verbindung bringen läßt: Krebs, Herzinfarkt, Grauer Star, Alzheimer, psychische Erkrankungen, plötzlicher Kindstod, Unfruchtbarkeit, Erbschäden... Fürwahr eine "makabre Palette", wie er schreibt. Und damit auch jeder merke, wie makaber alles ist, bezeichnet er die Leitungen der Stromversorgung und Funkverbindungen kurzerhand als "Geisternetze". Dort, wo diese Geisternetze in Steckdosen münden, befinden sich für ihn "Spukhäuser", in denen der Elektrosmog als "unsichtbarer Krankmacher" der ahnungslosen Opfer harrt.
Bei dieser Fahrt auf der Geisterbahn erklärt Steinig nebenbei auch die eigentliche Ursache für die Kostenexplosion im Gesundheitswesen: Es ist natürlich der "Elektrosmog", der die Leute immer kränker macht.
Allerdings soll es mal eine Ausnahme gegeben haben, die den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Krieg ermöglichte: "Ohne zu wissen, welchen gesundheitlichen Vorteil sie den Deutschen damit brachten, sperrten die Siegermächte den Richtfunk aus den Kriegsjahren. Während zwölf Jahren ohne Richtfunk reichte die Gesundheit für den Wiederaufbau."
Einige Seiten später fabuliert Steinig davon, daß mit der Aufnahme des UKW-Rundfunks ab 1950 und noch stärker mit Sendebeginn des Fernsehens ab 1955 die Infarkthäufigkeit zugenommen habe. Demnach könnte es mit der Entlastung durch den Richtfunk doch nicht so weit her gewesen zu sein. Andererseits müßte es mit seltsamen Dingen zugehen, wenn ausgerechnet die scharf gebündelten elektromagnetischen Felder des Richtfunks eine flächendeckende Beeinträchtigung der Volksgesundheit bewirken könnten.
Aber Steinig bemerkt solche Widersprüche in der eigenen Argumentation nicht einmal. Ihm ist alles recht, wenn es darum geht, seine Geisterbahn möglichst effektvoll auszustaffieren. So schlägt er die Mittel- und Kurzwellen des Rundfunks einfach dem "unteren Bereich der Mikrowellen" zu, weil schließlich jeder weiß, daß im Umgang mit der Mikrowelle Vorsicht geboten ist. Nach demselben Muster könnte er arktische Kälte als unteren Bereich tropischer Hitze definieren.
Sogar die Tatsache einer wesentlich gestiegenen Lebenserwartung kann Heinz Steinig nicht darin beirren, daß der Elektrosmog die Menschen krank und immer kränker mache: Es verhalte sich keineswegs so, daß die Leute länger leben, weil sie gesünder seien. In Wirklichkeit seien die Leute nur länger krank. - "Doch ein solcher Selbstbetrug zeigt nur, wir krank unsere moderne Gesellschaft tatsächlich schon ist."
Daß der Selbstbetrug auf seiner Seite liegen könnte, kommt ihm bei derartigen Geistesblitzen nicht in den Sinn. Auch nicht, daß jene Krankheit, die er an der modernen Gesellschaft diagnostiziert, seine eigene sein könnte.
Im Vorwort dankt Steinig dem Elektrobiologen Andràs Varga für dessen "fachliche Beratung". Sein Buch sieht freilich nicht so aus, als hätte es ein Fachmann durchgesehen. Zum Beispiel macht schon stutzig, wie Steinig als Quellen seines Wissens irgendwelche Publikumszeitschriften anführt. Sogar Hokuspokus-Blättchen wie "raum und zeit" werden als Quellen genannt.
Steinig hat sein Buch dem Pfarrer gewidmet, "der meiner Familie während unserer Hochspannungs-Zeit zum Freund geworden ist". Zwei Dinge hätten bei ihm einen "Wertewandel bewirkt": Zum einen der Kampf gegen die Hochspannungsleitung und zum anderen das Ökologieverständnis, wie es in einer Erklärung der deutschen Bischöfe zum Ausdruck kommt.
Bei soviel Artigkeit gegenüber der Kirche konnte der katholische Herder-Verlag wohl nicht widerstehen, ein breiteres Publikum mit den Ansichten des Heinz Steinig vertraut zu machen. Dabei muß ihn allerdings der Teufel geritten haben. Es bedarf keiner besonderen Vorbildung, um erkennen zu können, daß in diesem Buch blühender Unsinn steht.
(PB Mai 1995/*leu)