PresseBLICK-Rezensionen | Kernenergie |
Lang, lang, ist's her, als Deutsche und Franzosen - oder wenigstens das, was man als ihre Vorfahren ansehen könnte - in einem Reich vereinigt waren. Diese politische Leistung vollbrachten einst die Franken, die sowohl die romanisierten Gallier im Westen als auch etliche ihrer germanischen Bruderstämme im Osten unterwarfen. Zugleich ersetzten sie ihre alten germanischen Götter durch den neuen Gott des Christentums, wobei sie sich im Streit um die göttliche oder menschliche Natur von Jesus, der damals zwischen den Anhängern des Athanasius und des Arius tobte, voll auf die Seite der römisch-katholischen Fraktion schlugen. Papst Leo III. holte daraufhin die schon etwas angestaubte römische Kaiserkrone hervor und drückte sie am Weihnachtstag des Jahres 800 Karl dem Großen aufs Haupt, als dieser arglos zu Besuch in Rom weilte. Der überraschte Frankenkönig war über das Weihnachtsgeschenk erst ziemlich erbost, weil er den darin eingewickelten Machtanspruch seines römischen Bischofs erkannte. Im übrigen hatte er aber nichts gegen die neue Würde einzuwenden und tröstete sich mit dem Gedanken, daß die Kaiserkrone sämtliche Legitimationsdefizite heilen würde, die den Karolingern noch aus ihrer Vergangenheit als Hausmeier und wegen der putschähnlichen Absetzung der Merowinger anhingen. Im Unterschied zur Langlebigkeit des römischen Reichs zerfiel dann allerdings sein Imperium schon mit der nächsten Generation: Der Name des germanisch dominierten Frankenreichs blieb dabei ausgerechnet an der romanisierten Westhälfte haften. Die Kaiserwürde samt dem Anspruch, die Tradition des römischen Reiches fortzusetzen, wanderte dagegen in den östlichen Teil, der bis 1806 als "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" firmierte.
Trotz des gemeinsam verehrten Stammvaters - der bis heute je nach Blickwinkel Karl der Große oder Charlemagne heißt - gerieten die Nachfahren oft böse aneinander. Etwa im spanischen Erbfolgekrieg, als die Franzosen die Pfalz systematisch plünderten und brandschatzten. So richtig problematisch wurde das deutsch-französische Verhältnis aber erst, als Napoleon mit anderen alten Zöpfen auch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation beseitigte und das Zeitalter der Nationalstaaten begann: Schon während der Befreiungskriege gegen Napoleon verband sich das erwachte deutsche Nationalbewußtsein in unguter Weise mit anti-französischen und anti-liberalen Affekten. Nationalistische Eiferer wie der "Turnvater" Jahn hätten die Grenze nach Frankreich am liebsten völlig abgeriegelt, um Deutschland vor welschem Ungeist zu bewahren. Viele Franzosen konnten es später ihrerseits nicht verwinden, im Krieg von 1870/71 den kürzeren gezogen zu haben. Das imperialistische Gerangel um Kolonien, Bodenschätze und wirtschaftliche Einflußzonen verstärkte die Animositäten, so daß sich über viele Jahrzehnte hinweg beide Nationen sogar als "Erbfeinde" betrachteten. Seinen makabren Höhepunkt erreichte dieses von Unverständnis, Rivalität und Haß geprägte Verhältnis vor Verdun und an anderen Orten, an denen sich Deutsche und Franzosen hunderttausendfach massakrierten.
Gottlob ist das Geschichte. Die Völker des ehemaligen Frankenreichs leben heute recht einträchtig miteinander und bilden den Kern der Europäischen Union. Auch England hat sich seit geraumer Zeit dem Bunde zugesellt; das Gerede vom "perfiden Albion" ist wie die deutsch-französische Erbfeindschaft nur noch eine böse Reminiszenz. Als Bürger der EU kann man inzwischen von Berlin bis Lissabon reisen, ohne den Personalausweis vorzeigen zu müssen. Demnächst soll es sogar überall dieselbe Währung geben.
Dennoch bestehen zwischen diesen ökonomisch und politisch so eng verflochtenen Völkern noch immer beträchtliche kulturelle Unterschiede, die sich auch im politisch-ökonomischen Bereich auswirken und manches Mißverständnis zur Folge haben. Ein frappierendes Beispiel dafür sind die völlig unterschiedlichen Haltungen, die unvermutet dieseits und jenseits des Rheins auftauchen, wenn es um die Einstellung zur Kernenergie, zum Umweltschutz oder zu anderen Fragen der Energiepolitik geht. Zum Beispiel gibt es in Frankreich bisher keinen massiven Widerstand gegen die Kernenergie. Die deutschen Ängste werden dort eher als Hypochondrie belächelt. Ebenso konnte die grüne Bewegung in Frankreich lange Zeit kein Bein auf den Boden bekommen, während sie in Deutschland längst in Parlamenten und Regierungen saß.
Der vorliegende Band will diesen unterschiedlichen Einstellungen gegenüber Energie- und Umweltfragen nachgehen und ergründen, weshalb Deutsche und Franzosen in ihrer Kultur und Sichtweise so stark differieren. Die Autoren greifen dabei zwar nicht gleich bis zum Reich Karls des Großen zurück, sehen aber doch einige bemerkenswerte Unterschiede bereits zu Beginn der Neuzeit angelegt, als die Franzosen die Natur mit den Augen des Descartes zu sehen begannen, während die Deutschen bis heute eher einem pantheistischen Naturverständnis huldigen.
Der Band vereinigt etwa zwei Dutzend Beiträge eines Kolloquiums, das im Schloß Neuhardenberg in Brandenburg stattfand. Teilnehmer waren rund hundert Vertreter der Energiewirtschaft sowie Politiker und Wissenschaftler beider Länder, wobei die Zahl der französischen Teilnehmer mit zwei Dritteln deutlich überwog. Als Herausgeber zeichnet das "Institut Berlin-Brandenbourg pour la coopération franco-allemande en Europe à Genshagen" unter der Leitung seiner beiden Direktoren Rudolf von Thadden und Brigitte Sauzay. Im Vorwort danken sie RWE, Bayernwerk, PreussenElektra und der Electricité de France (EDF) für ihre Beteiligung. Ihr ganz besonderer Dank gilt der Mannschaft des "Comité de la Prospective", das bei der Generaldirektion der EDF die Aufgabe hat, langfristige Strategien für die französische Stromwirtschaft zu erkunden und die Aufgeschlossenheit der EDF für Zukunftsfragen zu demonstrieren. Dieses Komitee hat auch das erwähnte Kolloquium organisiert und die Herausgabe des vorliegenden Sammelbandes veranlaßt.
Der Band ist erst in diesem Jahr erschienen. Um so mehr stutzt der Leser, wenn ihm darin Hermann Krämer als Chef der PreussenElektra begegnet, oder wenn Staatssekretär Clemens Stroetmann, der unter Angela Merkel aus dem Amt schied, noch die Grüße von Bundesumweltminister Töpfer überbringt. Des Rätsels Lösung: Das Kolloquium fand bereits im September 1992 statt. Neueren Datums ist nur ein abschließender Text von Christian Stoffaes, Direktor des "Comité de la Prospective".
Die Referate sind somit naturgemäß nicht mehr ganz taufrisch, soweit hier von Vertretern beider Länder ihre energie- und umweltpolitischen Positionen dargelegt werden. Zum Teil dürften sie auch jeweils nur dem französischen oder dem deutschen Leser neue Einsichten bieten: So hat es vor allem für Franzosen Neuigkeitswert, wenn Martin Jänicke von der FU Berlin die deutsche Umweltpolitik schildert, der Europaabgeordnete Manfred Vohrer die politische Auseinandersetzung um die Kernenergie in Deutschland nachzeichnet oder Ernst Ulrich von Weizsäcker die Sichtweisen seines Wuppertal-Instituts darlegt. Umgekehrt können deutsche Leser hier aus berufenem Munde erfahren, wie die Grundzüge der französischen Umweltpolitik aussehen oder wieweit die Umweltproblematik die Wissenschaftler in Frankreich bewegt.
Grenzübergreifendes Interesse können dagegen jene Beiträge beanspruchen, welche die Unterschiede zwischen beiden Ländern herauszuarbeiten versuchen - von der jeweils andersgearteten Struktur der Energiewirtschaft über Unterschiede im umweltpolitischen Bewußtsein bis hin zu Deutungsversuchen des jeweiligen Nationalcharakters, die mit solchen Differenzen zu tun haben mögen.
Rudolf von Thadden, der als Historiker an der Universität Göttingen lehrt, nennt in seinem Vorwort gleich einige der wesentlichen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich: Hier die Dominanz der reichlich vorhandenen Kohle, dort der massive Ausbau der Kernenergie; hier Föderalismus mit starker regionaler Einflußnahme auf die Wirtschaft, dort zentralistische Strukturen mit staatlicher Planungskompetenz; hier das Vertrauen in die selbstregulierenden Kräfte der Marktwirtschaft, dort die unbezähmbare Neigung zum Dirigismus. Insgesamt seien die Unterschiede auf dem politisch-ökonomischen Sektor fast größer als die Gemeinsamkeiten. Ebenso gebe es wesentliche psychologische Unterschiede, die sich in einem unterschiedlichen Verständnis der Rolle von Natur, Kultur und Technik äußerten.
Auf eine schwere Hypothek des Umweltschutzgedankens, die vom Geburtstag der Grande Nation datiert, verweist Bernard Kalaora vom Pariser Umweltministerium: In der französischen Revolution waren es nämlich die konservativ-reaktionären Kräfte, die den Schutz angestammter Milieus und die Erhaltung der ursprünglichen Natur forderten, um die revolutionäre Neuordnung Frankreichs zu verhindern. Schon von daher scheinen Franzosen die zivilisierte Natur höher zu schätzen als die wilde Natur, die den Deutschen dafür um so mehr am Herzen liegt.
Heinz Wismann beleuchtet die völlig unterschiedlichen Konnotationen der Begriffe Zivilisation und Kultur zu beiden Seiten des Rheins: Ursprünglich verstand man unter Zivilisation nichts weiter als die Umwandlung eines Strafprozesses in ein zivilrechtliches Verfahren. Eine neue Bedeutung erhielt der Begriff dann 1768 durch den Marquis de Mirabeau, der ihn als Verfeinerung von Lebensart und Umgangsformen definierte. Bis zum 19. Jahrhundert verdichtete sich diese neue Bedeutung zu der Vorstellung, daß Zivilisation die höchste Stufe der Kultur sei, und zwar im Sinne der Domestizierung und Überwindung des barbarisch-chaotischen Urzustands der Natur. Wenigstens sahen das so die Franzosen. Auf deutscher Seite dagegen bekundete schon Herder 1787 sein Unverständnis: Für ihn wurzelte wahre Kultur gerade in den Tiefen naturverbundenen Gemüts und Volkstums - so wie die schwermütigen, von Schwertgeklirr und Nebelschwaden erfüllten Verse des erblindeten keltischen Barden Ossian, denen Herder noch auf dem Totenbett andächtig lauschte (wobei er nicht ahnte, daß diese vermeintliche Hochkultur aus grauer Vorzeit ein Produkt des Zeitgeistes und eine grandiose Fälschung war, mit der ein schottischer Schriftsteller die ganze gebildete Welt zum Narren hielt). Auch bei Fichte, Pestalozzi oder Novalis lassen sich ähnlich tiefgründelnde Haltungen finden. Sofern die Deutschen dem Begriff der Zivilisation überhaupt etwas abgewinnen konnten, stand er für oberflächliche, zweitrangige oder sogar negative Aspekte der modernen Kultur.
Anhand der jeweiligen Definitionen in den Konversations-Lexika des 19. Jahrhunderts zeigt Wismann, wie sich die unterschiedlichen Paradigmen mit Aggressivität aufluden und den Vorwand für fragwürdige Werturteile lieferten: Die Deutschen assoziierten die Zivilisation im wesentlichen mit so profanen Dingen wie Eisenbahn und Wasserspülung, während der eigentliche Bereich der Kultur dem Volkslied, Beethoven, gotischen Kirchen oder der Venus von Milo vorbehalten blieb. In dieser Optik waren die Franzosen wohl zivilisiert, aber doch ziemliche Banausen, was die quasi sakrale Dimension von Kultur anging. Die Franzosen sahen ihrerseits gerade in der Zivilisation die höchste Kulturstufe, die das Menschengeschlecht erklimmen konnte, und witterten hinter der unverhohlenen Sehnsucht der Deutschen nach dem Naturzustand deren Anfälligkeit für die alte germanische Barbarei. Mit deutlicher Spitze gegen die Nachbarn jenseits des Rheins widmeten sie deshalb auch einen Gedenkstein für die Gefallenen des ersten Weltkriegs "all denen, die für die Zivilisation gestorben sind".
Luc Ferry, Professor an der Universität von Caen, sieht die deutsche und die französische Einstellung zur Umwelt schon vor ungefähr dreihundert Jahren auseinanderdriften, als die klassisch-rationale Geisteshaltung zunehmend vom "Sentimentalismus" abgelöst worden sei. Die französischen Gärten seien der reinste Ausdruck der rationalen Haltung zur Natur gewesen, indem sie die Ursprünglichkeit mit Lineal und Schere in geometrische Formen zwangen und so den Triumph des Geistes über die ungeordnete Natur symbolisierten. Sogar in den Alpen habe man bis dahin nicht viel mehr als ein scheußliches und lästiges Hindernis gesehen - bis dann Jean-Jacques Rousseau (wohlgemerkt ein Schweizer) jene nostalgische, sentimentale Weise vom verlorengegangenen Naturzustand intoniert habe, die dann vor allem östlich des Rheins großen Widerhall gefunden habe. Noch die NS-Ideologen hätten aus diesem spezifisch deutschen Naturverständnis Honig gesaugt.
Zugleich wendet sich Ferry gegen fundamentalistische Teile der Umweltbewegung, für die nicht mehr der Mensch der Mittelpunkt der Welt sei, den es vor allem zu schützen gelte, sondern denen es hauptsächlich darum gehe, die Natur vor dem Menschen zu schützen. Den Grundakkord dieser "Tiefen-Ökologie" hört er ebenso bei dem zeitgenössischen deutschen Philosophen Hans Jonas wie schon aus den Schriften Wilhelm Heinrich Riehls oder des NS-Ideologen Walther Schoenichen. Nach dem Zusammenbruch von Marxismus, Anarchismus, Maoismus und anderen ideologischen Luftschlössern richte sich nun die Sehnsucht wieder verstärkt auf einen vermeintlich verlorengegangenen Naturzustand und dessen Wiederherstellung. Er plädiert demgegenüber für eine anthropozentrische Sichtweise, die der Natur keinen eigenen, unveräußerlichen Wert beimißt, sondern Umweltschutz nüchtern und pragmatisch als Schutz der menschlichen Lebenssphäre begreift.
Dany Trom, ein Student des Institut d'Études Politiques, warnt vor holzschnittartigen Vereinfachungen: Ein bißchen ungleichgewichtig seien solche Stereotype schon, in denen die Franzosen stolz die Fahne der Ratio hochhielten, während die Deutschen ihre eher negativen Zuschreibungen widerspruchslos zu schlucken schienen. Differenzierter als Ferry sieht er auch den Paradigmawechsel, der in der Gartenkunst zur Ablösung des französisch-geometrischen Stils durch den sogenannten Englischen Garten führte - zu jener scheinbar naturbelassenen Landschaft, in der sanft geschwungene Wege durch malerisch angeordnete Büsche, Baumgruppen und Rasenflächen führen, während über idyllische Hügel oder die Wasserfläche des Teichs hinweg ein antikes Tempelchen grüßt. Gewiß habe dieser Englische Garten mehr das Gemüt als den Verstand angesprochen. Wie aber schon der Name bezeugt, sei er keine deutsche Erfindung gewesen. Diese Art der Landschaftsgestaltung sei sogar stark von der französischen Malerei beeinflußt worden und habe im Grunde nur die arkadischen Landschaften eines Lorrain und Poussin in ein dreidimensionales, begehbares Gemälde verwandelt. Auch sonst gebe es gute Gründe, die den Deutschen nachgesagte Geisteshaltung zu relativieren, zumal die westlichen Industriegesellschaften ohnehin einer zunehmenden Angleichung und geistigen Uniformierung unterlägen.
Es fällt offensichtlich schwer, im Garten der europäischen Geistesgeschichte den richtigen Pfad zu finden, ohne im Gestrüpp aus französischem Rationalismus, deutschem Idealismus und englischem Sensualismus den Durchblick zu verlieren. Verläßlicher sind da die Informationen, die der vorliegende Band zu den einigermaßen handfesten Unterschieden in Energiewirtschaft und Umweltpolitik der beiden Länder bietet. Hier wäre zunächst die französisch-deutsche Gemeinschaftsarbeit von Pierre Bauby und Tibor Klement hervorzuheben, die synoptisch darlegt, wie sich in beiden Ländern Politik und öffentliche Meinung zu Fragen des Umweltschutzes und der Kernenergie entwickelt haben. Äußerst aufschlußreich ist ferner der ähnlich angelegte Beitrag des EDF-Direktors Christian Stoffaes, der aus intimer Kenntnis der Stromwirtschaften beider Länder deren Unterschiede hervorragend aufzeigt. Mit insgesamt 62 Seiten ist der Beitrag von Stoffaes der weitaus umfangreichste des ganzen Bandes und für Leser aus der Energiewirtschaft vielleicht der lohnendste.
Die hier genannten drei genannten Autoren bringen in Erinnerung, daß in der Bundesrepublik wie in Frankreich Fragen des Umweltschutzes bis in die sechziger Jahre hinein überhaupt keine Rolle spielten. Die Verschmutzung der Umwelt wurde ebenso weitgehend ignoriert wie die radioaktive Belastung der Atmosphäre durch den Fallout der Kernwaffentests. Die friedliche Nutzung der Kernenergie genoß in Deutschland sogar frühere und breitere Unterstützung als in Frankreich, wo die ersten Reaktoren ausschließlich der Produktion von Plutonium für die "Force de frappe" dienten. Und als sich dann auf der rechten Seite des Rheins die erste Kritik regte, zielte sie auf vergleichsweise harmlose Risiken wie die Erwärmung von Flußwasser durch Abwärme oder die Abschattung von Weinbergen durch die Dampfschwaden von Kühltürmen.
Wie kam es trotzdem zu den gegensätzlichen Haltungen in punkto Umweltbesorgtheit und befürchteten Risiken der Kernenergie? Weshalb hat auch der GAU von Tschernobyl keinen entsprechenden GAU in der öffentlichen Meinung Frankreichs bewirkt? - Ein wichtiger Grund war, den Autoren zufolge, die unterschiedliche Struktur der beiden Länder: Zunächst einmal ist die Bundesrepublik weit dichter bevölkert und industrialisiert als Frankreich. Noch entscheidender dürfte aber der föderalistische Aufbau der Bundesrepublik sein, der auf der politischen Ebene den jeweiligen Länderregierungen starke Einflußnahme auf die Energiepolitik ermöglicht und parallel dazu im kommunikativen Sektor zahlreiche Schwer- und Kristallisationspunkte der öffentlichen Meinung hervorbringt. In Frankreich sind dagegen die politische Leitung und die Meinungsbildung in Paris zentralisiert, wo sich die jeweiligen Eliten durchaus mit der EDF und deren Kernkraftwerken identifizieren. Das hat wiederum damit zu tun, daß Frankreich traditionell kaum Kohlevorkommen besitzt - früher ein fast existenzbedrohlicher Umstand, der auch erklärt, weshalb die Franzosen so verbittert wegen dem Verlust Lothringens waren, ihrerseits ständig nach dem Saargebiet schielten und 1923 ins Ruhrgebiet einmarschierten.
Die Stromwirtschaft Frankreichs sah den Ausweg aus der Kohleknappheit - übrigens ganz ähnlich wie die Energieversorger im deutschen Süden - zunächst im Ausbau der Wasserkräfte, ehe sie ab 1969 mit einer Lizenz von Westinghouse versuchsweise und ab 1974 ganz massiv in die neue Technik der Kernenergie einstieg. Heute gibt es 57 Reaktoren an 20 Standorten, die rund 75 Prozent der französischen Stromerzeugung bestreiten. Zweitgrößte Stromquelle ist mit rund 16 Prozent die Wasserkraft. Alle fossilen Brennstoffe zusammen decken den kleinen Rest. In Deutschland kommt dagegen mehr als die Hälfte des Stroms aus Stein- und Braunkohlekraftwerken. Die teilweise bestehende Verknüpfung von friedlicher und militärischer Nutzung der Kernenergie trägt ebenfalls dazu bei, daß sich die Franzosen in ganz anderer Weise als die Deutschen mit einer Technologie identifizieren, die in ihren Augen politisch wie wirtschaftlich das Unterpfand für die Selbstbehauptung ihres Landes darstellt.
Die französische Wirtschaftspolitik neigt seit den Zeiten Colberts zum Dirigismus, anstatt einer diskreten politischen Rahmensetzung zur Entfaltung wie zur Zügelung des freien Spiels der Kräfte zu vertrauen. Insofern verwundert es nicht, daß sich die Stromwirtschaft fast hunderprozentig in der Regie des Staates befindet. In Deutschland gibt es dagegen eine für Franzosen verwirrende Fülle von kleinen, mittleren und großen Energieversorgern, die sich zudem noch in privatem, gemischtwirtschaftlichem oder öffentlichem Eigentum befinden. Dennoch - so eine weitere Erkenntnis aus diesem Buch - datiert diese enorme Konzentration der französischen Stromwirtschaft erst aus dem Jahre 1946, als unter der Volksfront-Regierung die EDF gegründet wurde. Von daher rührt auch wohl der relativ große Einfluß, den die kommunistische Partei bzw. die ihr verbundene Gewerkschaft CGT bis heute in der EDF und anderen staatlichen Regiebetrieben besitzt - was wiederum erklären hilft, weshalb es in Frankreich, anders als in Deutschland, nie zum Schulterschluß oder gar zur Verschmelzung zwischen der politischen Linken und der neuen grünen Bewegung gekommen ist. Denn wer sägt schon an dem Ast, auf dem er sitzt? (Man begegnet bei Franzosen mitunter sogar der Ansicht, die kommunistische Partei verdanke es hauptsächlich ihrer traditionellen Verankerung in den staatlichen Regiebetrieben, daß sie trotz des Zusammenbruchs des Sowjetregimes noch nicht zur bloßen Sekte zerkrümelt sei.)
Stoffaes macht darauf aufmerksam, daß es die Länder mit protestantisch geprägter Kultur waren (USA, Großbritannien, Schweden usw.), die sich erst als Pioniere und dann als Bremser der Kernenergie betätigt hätten. Damit will er wohl sagen, daß es im katholisch geprägten Frankreich hier wie dort anders laufen werde. Um der Kernenergie in Frankreich und darüber hinaus im geeinten Europa eine Zukunft zu sichern, müsse diese sich freilich von ihrer "nationalistischen und militärischen Komponente" lösen. Ferner bedürfe es weiterer Anstrengungen zur Gewährleistung der Reaktorsicherheit und zur Lösung des Entsorgungsproblems. Im deutsch-französischen Druckwasserreaktor (EPR) sieht er ein vielversprechendes Konzept. Allerdings hegt er starke Zweifel, ob man dafür auf deutscher Seite in absehbarer Zeit Verwendung haben wird.
Möglicherweise ist die Zukunft des EPR nicht einmal in Frankreich so sicher: Pierre Bauby und Tibor Kliment listen zwar in ihrer vergleichenden Untersuchung nicht weniger als 13 Punkte auf, weshalb Frankreich in Sachen Kernenergie eine Ausnahme darstellt. Etliche der genannten Faktoren seien aber bereits dabei, an Wirksamkeit zu verlieren. Schon eine Umkehrung in einem der aufgelisteten Punkte würde ihrer Meinung nach genügen, um Neubauprogramme für Kernkraftwerke auch in Frankreich zu blockieren - zum Beispiel im Falle eines taktischen Bündnisses einer der Parteien mit den Umweltschützern, als Folge der Dezentralisierungsbemühungen oder durch die Einführung plebiszitärer Elemente in die politischen Entscheidungen. Vor allem aber sei es die Europäische Union mit der zunehmenden Verlagerung von Kompetenzen auf überstaatliche Gremien, die langfristig die Kernenergie auch in Frankreich in Frage stelle.
Wie man sieht, bietet diese Publikation auch fünf Jahre nach dem zugrundeliegenden Kolloquium noch immer eine anregende und aktuelle, zum Nachdenken wie zum Widerspruch reizende Lektüre. Sie ist allerdings durchweg in französisch gehalten, einschließlich jener Referate, denen ursprünglich ein deutschsprachiges Manuskript zugrunde lag. Wer darin kein Hindernis sieht, kann sie für 8 DM zuzüglich Versandkosten beim Berlin-Brandenburgischen Institut für deutsch-französische Zusammenarbeit beziehen (Adresse: Im Schloß, 14974 Genshagen).
Für den kommenden November bereitet die EDF übrigens ein neues Kolloquium vor: Das Thema wird die französische Auffassung vom "service public" sein - also jene Klippe, an der die Liberalisierung des europäischen Energiemarktes fast gescheitert wäre und die von den EU-Partnern mehr schlecht als recht mit dem Zugeständnis des Alleinkäufer-Modells umschifft wurde.
(PB 4/97/*leu)