PresseBLICK-Rezensionen | Kernenergie |
Die Strahlenbelastung unserer Umwelt ist ein wichtiges und lebhaft diskutiertes Thema. Die sachliche Erörterung der damit zusammenhängenden Probleme bleibt indessen meist Experten vorbehalten. Zu schwierig ist es für Nicht-Fachleute, sich einen Reim auf "Becquerel", "Gray" und "Sievert" zu machen, die "Energiedosis" von der "Äquivalentdosis" zu unterscheiden oder Begriffe wie "Nuklide", "Isotopen" und "Transurane" richtig einzuordnen.
Die vorliegenden Bücher möchten diesem Manko abhelfen. In beiden Fällen handelt es sich nicht um Neuerscheinungen, sondern um bearbeitete Neuauflagen von allgemeinverständlichen Einführungen in das Gebiet des Strahlenschutzes. Das Buch aus dem Springer-Verlag macht äußerlich - mit Hardcover, Bindung und weißem Papier - den gediegeneren Eindruck. Dafür kostet es allerdings 38 DM. Das zweite Buch, das von der bayerischen Landesregierung herausgegeben wird, ist kleinformatig, lediglich broschiert und auf grauem Recycling-Papier gedruckt. Dafür hat es den Vorteil, im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit kostenlos erhältlich zu sein.
Als Einführung in das Gebiet des Strahlenschutzes leisten beide Bücher dem Leser gute Dienste. Die Vorzüge und Schwächen der jeweiligen Darstellung dürften sich ungefähr die Waage halten. Die Autoren Kiefer und Koelzer sind als professionelle Strahlenschützer am Kernforschungszentrum Karlsruhe tätig. Die Broschüre aus Bayern ist größtenteils von Mitarbeitern des Forschungszentrums Jülich verfaßt worden. Der Gebrauchswert beider Publikationen erhöht sich noch durch die Erläuterung von Fachausdrücken und Literaturnachweise im Anhang. Ein Stichwort-Verzeichnis hat allerdings nur das bei Springer erschienene Buch.
Die Broschüre der bayerischen Landesregierung
verhehlt nicht, daß sie vor allem Ängsten und Vorbehalten gegenüber
der Kernenergie entgegenwirken möchte, die in Bayern etwa 60 Prozent
der Stromerzeugung und damit einen fast doppelt so großen Anteil
wie im Bundesdurchschnitt stellt. "Der bestimmungsmäßige Betrieb
kerntechnischer Anlagen in der Bundesrepublik Deutschland ist mit einem
minimalen Risiko verbunden", lautet ihr Fazit. "Durch intensive wissenschaftliche
Forschung und umfangreiche technische Anstrengungen ist gewährleistet,
daß bei der Nutzung der Kernenergie der Vorrang der menschlichen
Gesundheit gegenüber wirtschaftlichem Nutzen sicher aufrecht erhalten
wird."
Beide Bücher heben hervor, daß ionisierende
Strahlung kein Phänomen des "Atomzeitalters" ist, sondern zu den natürlichen
Existenzbedingungen aller Lebewesen gehört. Der Mensch ist sowohl
aus dem Kosmos als auch aus dem Erdinnern heraus seit jeher einer Strahlenbelastung
ausgesetzt, auf die sich der Organismus eingestellt hat. Die Autoren des
Springer-Buches verweisen in diesem Zusammenhang darauf, daß jeder
Mensch wegen des natürlichen Kalium-40 im Körper eine bestimmte
Eigenstrahlung hat. Konkret bedeutet dies, daß selbst beim friedlichen
Schlaf im häuslichen Doppelbett eine jährliche Strahlenbelastung
von 0,1 µSv durch den Partner entsteht (bei einem Abstand von 50
cm in 3000 Stunden entsprechend 8 Stunden täglichen Schlafes).
Dieselben Autoren rechnen weiter vor, daß
die natürliche Strahlung etwa ein Drittel der mittleren effektiven
Äquivalentdosis von 3,9 mSv/Jahr je Bundesbürger ausmacht. In
derselben Größenordnung liege die zivilisationsbedingte, ansonsten
aber ebenfalls "natürliche" Strahlenbelastung, die durch das Wohnen
in Häusern entsteht. Lediglich das restliche Drittel an künstlicher
Strahlenbelastung sei neueren Ursprungs - und gehe auch hier fast ausschließlich
auf das Konto der Röntgendiagnostik. Die Belastung durch kerntechnische
Anlagen sei demgegenüber so gering, daß selbst beim Daueraufenthalt
am Zaun eines Kernkraftwerks nur etwa 10 µSv/Jahr registriert würden.
Dies sei halb soviel, wie beim Flug in den Urlaub durch die Höhenstrahlung
anfalle. Die Strahlendosis durch Kernkraftwerke sei sogar häufig geringer
als diejenige, die durch die Radionuklide in der Flugasche von Steinkohlekraftwerken
verursacht werde.
Ähnlich argumentiert die Bayern-Broschüre.
Hier findet man vorgerechnet, daß ein mittlerer Raucher sich im Laufe
von 25 Jahren einer Strahlenbelastung von etwa 200 mSv aussetzt und der
Genuß radiumreicher Mineralwässer bei 60 Litern jährlich
bereits zu Knochendosen von mehr als 3 mSv führen kann. Es fehlt auch
nicht der Hinweis auf das Radium-Heilbad Badgastein, wo schon normale Einwohner
eine Bronchialzellendosis von bis zu 80 mSv/Jahr erhalten und das in einem
"Heilstollen" tätige Personal sogar mit Dosen von bis zu 1600 mSv/Jahr
rechnen muß.
Heute tun sich Mediziner schwer damit, die Wertschätzung
von Radon als Therapeutikum noch einigermaßen plausibel zu begründen.
Schon im 16. Jahrhundert grassierte unter Bergleuten des Erzgebirges eine
geheimnisvolle "Schwindsucht", die sich inzwischen mit den hohen Radon-Konzentrationen
in uranhaltigen Stollen erklären läßt. Später forderten
der sorglose Umgang mit den neuentdeckten Röntgen-Strahlen und radioaktiven
Leuchtstoffen etliche Todesopfer. Selbst nach dem Abwurf der ersten Atombomben
wurde mit den Risiken ionisierender Strahlung noch immer sehr leichtfertig
umgegangen. Bis zum Teststopp-Vertrag belasteten die Weltmächte durch
zahlreiche oberirdische Atombomben-Tests die Atmosphäre. Noch heute
wollen einige Staaten nicht von dieser vorsätzlichen Umweltverseuchung
lassen.
Seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986
sind für eine breite Öffentlichkeit allerdings die Risiken von
Kernkraftwerken in den Vordergrund der Befürchtungen getreten. Beide
Bücher berücksichtigen diesen Umstand, indem sie jeweils ein
besonderes Kapitel dem Unfall von Tschernobyl und seinen Auswirkungen widmen.
Der Streit darüber, ob jede Art und Dosis von
ionisierender Strahlung bereits ein Gesundheitsrisiko bedeutet, ist noch
nicht entschieden. Beide Bücher neigen zu der Auffassung, daß
der Organismus innerhalb bestimmter Grenzen die Fähigkeit besitzt,
die im molekularen Zellgewebe entstandenen Schäden zu reparieren.
Dies wäre angesichts der seit jeher bestehenden natürlichen Strahlenbelastung
plausibel (was nicht heißen muß, daß die natürliche
Strahlenbelastung ungefährlich oder sogar lebensnotwendig sei). Es
verhält sich auch sicher so, daß die bloße Radioaktivität
eines Stoffes noch keinen hinreichenden Maßstab für dessen Gefährlichkeit
bietet. Zum Beispiel macht es bei gleichen Becquerel-Werten einen großen
Unterschied, ob Krypton-85 oder Jod-131 in die Biosphäre entweicht.
Es hängt nach Ansicht der Autoren von der jeweils
zu errechnenden Äquivalentdosis ab, ob ionisierende Strahlung unterhalb
der Schwelle akuter Strahlenerkrankung sogenannte "stochastische" (weil
im Einzelfall nicht mit Sicherheit voraussagbare) Spätschäden
hervorzurufen vermag. Die Bayern-Broschüre glaubt sogar schon jetzt
voraussagen zu können, daß sich als Folge der erhöhten
Strahlenbelastung durch Tschernobyl in den nächsten drei Jahrzehnten
in Deutschland keine Zunahme an Krebstodesfällen, Erbschäden
und anderen Effekten feststellen lassen werde.
Beiden Büchern ist deutlich zu entnehmen, daß
die Emissionen aus Kernkraftwerken einen äußerst geringen Teil
der effektiven Strahlenbelastung ausmachen. Dieses Ergebnis wird manchen
überraschen. Für grundsätzliche Kritiker der Kernenergie
dürfte deshalb allerdings noch kein Grund zur Entwarnung gegeben sein:
Sie werden unter anderem ins Feld führen, daß Wirkungen und
Wege ionisierender Strahlen noch lange nicht ausreichend geklärt seien
und daß sich Katastrophen wie in Tschernobyl immer wiederholen könnten.
(PB 10/92/*leu)
Die natürliche
Strahlenbelastung
Flugreise
bringt höhere Belastung als KKW
Strahlenkranke
Bergarbeiter im 16. Jahrhundert
Begrenzte
Fähigkeit zur Selbstreparatur?