PresseBLICK-Rezensionen | Kernenergie |
Um die Zeitenwende herum mögen etwa 330 Millionen Menschen auf der Erde gelebt haben. Noch als James Watt 1782 seine erste Dampfmaschine auslieferte, betrug die Weltbevölkerung nur etwa 1,2 Milliarden. Dagegen lebten 1980, nur 200 Jahre später, rund 4,45 Milliarden Menschen auf der Erde. Und im Jahre 2000 werden es voraussichtlich 6,4 Milliarden sein - die Weltbevölkerungszahl gleicht einer exponentiell ansteigenden Kurve, die bereits in den nächsten Jahrzehnten in schwindelerregende Höhen vorstoßen wird.
Vor diesem Hintergrund untersucht der Verfasser die noch zur Verfügung stehenden Energiereserven. Ohne die fossilen Energieträger Kohle, Öl und Gas, deren Nutzung vor etwa 200 Jahren begann, wären die Industrialisierung und die explosionsartige Zunahme der Weltbevölkerung nicht möglich gewesen. Doch diese Energievorräte sind beschränkt. Sie sind sogar verschwindend gering und blitzartig verbraucht, wenn man die Epoche der Industrialisierung in Relation zur gesamten bisherigen Kulturentwicklung der Menschheit setzt. Es wird deshalb entscheidend vom künftigen Energieangebot abhängen, wieweit sich millionenfaches Elend, Hunger und Tod auf dem immer stärker bevölkerten Planeten vermeiden lassen. Zugleich läuft die Menschheit Gefahr, sich durch ihren enormen Energiebedarf die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Der Schutz der Bio-sphäre wird deshalb ebenfalls zu einer weltweiten Aufgabe.
Der Verfasser beleuchtet zunächst die fossilen Primärenergieträger Kohle, Erdöl, Erdgas sowie Ölsand und Ölschiefer. Er gelangt zu der Feststellung, "daß die Sicherstellung der Versorgung der extrem schnell steigenden Weltbevölkerung zu einer Erschöpfung der Weltressourcen der fossilen Primärenergien bereits vor Ende des nächsten Jahrhunderts führt". Schon in der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts seien Probleme und Engpässe in der Versorgung zu erwarten.
Auch beim Blick auf die erneuerbaren Energieträger vermag er keinen sonderlichen Hoffnungsschimmer zu erkennen. Selbst bei konsequentem Ausbau der erneuerbaren Energien bis Ende des nächsten Jahrhunderts werde es nicht gelingen, ihren derzeitigen Anteil von etwa 15 % des Gesamtverbrauchs wesentlich zu erhöhen. "Das heißt aber, daß auch weiterhin rd. 85 % der Primärenergieversorgung durch fossile Energieträger und durch Kernenergie gesichert werden muß."
In Anbetracht der sich bereits abzeichnenden Erschöpfung der fossilen Energieträger bliebe also in der Hauptsache nur noch die Kernenergie übrig. Und auf ein fulminantes Plädoyer für die Kernenergie läuft dieses Buch in der Tat hinaus. Schon jetzt sieht der Autor einen gefährlichen, kaum noch auszugleichenden Rückstand beim Bau von Kernkraftwerken. Sarkastisch meint er: "Sollte allerdings die herrschende (manipulierte) öffentliche Meinung weiterhin auf einem 'Aus' für die Kernenergie bestehen, erledigt sich das hier angeschnittene Problem von selbst - ebenso wie die Frage, womit Menschen sich in 200 Jahren wärmen, ihre Nahrungsmittelversorgung sicherstellen und anderes mehr."
Besonders die Entscheidung, den Bau des Thorium-Hochtemperatur-Reaktors (THTR) nicht weiter zu verfolgen, hält der Verfasser für völlig unverständlich und kaum zu verantworten. Ebenso dürfe die Weiterentwicklung der Schnellen-Brüter-Technologie nicht von Kostengesichtspunkten abhängig gemacht werden. Die zentralen Probleme der künftigen Energieversorgung müßten jetzt gelöst werden, bevor es spät dafür sei. Denn auch die Vorräte an Uran seien schließlich begrenzt.
Der Verfasser trägt seine Argumentation mit enormer Sachkenntnis vor. Akribisch erfaßt er die Kernpunkte und Eckdaten der wichtigsten Energiefragen, ob es nun um Kohle, Windkraft, Erdwärme, Solartechnik, Kernenergie, Strahlenbelastung oder um die Kernfusion geht. Zahlreiche Tabellen und Formeln untermauern den Eindruck einer illusionslosen, nüchternen Bestandsaufnahme. Auch wer ihm nicht in allen Punkten folgen möchte - etwa im Hinblick auf die Ergiebigkeit der erneuerbaren Energien - findet hier interessantes Material und eine ausgezeichnete Synopse aller nur denkbaren Energiebereiche.
In seinem Resümee vertritt der Verfasser die Ansicht, daß die hier aufgezeigte Entwicklung so neu und bedrohlich sei, daß sie sich mit vertrauten Maßstäben gar nicht erfassen lasse. Das exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung werde bislang kaum oder gar nicht mit der Endlichkeit der fossilen Energievorräte in Zusammenhang gebracht. Die Menschen seien wohl gar nicht in der Lage, "derartige nicht-linerare Zusammenhänge gedanklich, ohne mathematische Hilfsmittel, zu realisieren". - Ein verhängnisvolles, naturwüchsiges Handikap, denn "1859 entdeckten Weber und Fechner, daß bei einer Verdoppelung der Intensität auslösender Reize beim Menschen die Sinnensempfindungen jeweils (nur) um einen bestimmten, konstanten Betrag zunehmen (Weber-Fechnersches Gesetz)".
An diesem Punkt, wo sich der Verfasser aus dem Bereich der Naturwissenschaft auf den schwankenden Boden der Psychologie begibt, scheint eine kritische Bemerkung angebracht: Zunächst wäre daran zu erinnern, daß der Blindheit für exponentielles Wachstum wohl eine ebenso große Gläubigkeit an exponentielles Wachstum entspricht, denn anders lassen sich die Energiebedarfsprognosen kaum erklären, wie sie noch bis Anfang der siebziger Jahre im Schwange waren. Dann wäre festzustellen, daß die Entdeckung des erwähnten psycho-physiologischen Gesetzes nicht in das Jahr 1859 fällt und auch nicht als Teamarbeit von Weber und Fechner zustande kam. Es war vielmehr Fechner allein, den die Einsicht in die angeblich logarithmische Beziehung zwischen Reiz und Empfindung am Morgen des 22. Oktober 1850 wie eine mystische Offenbarung überkam, nachdem er sich ausführlich mit früheren Untersuchungen Webers aus dem Jahre 1834 befaßt hatte. Fechner war nämlich als Physiker für Zahlen-Magie ebenso empfänglich wie er als Philosoph an Seelenwanderung und okkulte Phänomene glaubte. Die spätere empirische Überprüfung hat denn auch ergeben, daß die vermeintlich so mathematisch-exakte Beziehung zwischen Reiz und Empfindung (die bis heute in der Dezibel-Skala fortlebt) nur bedingt bzw. im Mittelbereich eines Reizkontinuums zutrifft. - Immerhin ein kleiner Trost für alle, die sonst an der mathematisch-physikalischen Determiniertheit der Menschheit und ihres künftigen Schicksals verzweifeln möchten.
(PB 12/91/*leu)