PresseBLICK-Rezensionen | Kernenergie |
Die jüngste Brandkatastrophe, die den Turbinenraum des Blocks II in Tschernobyl zerstörte, hat erneut die grundsätzlichen Sicherheitsmängel der sowjetischen Kernkraftwerke und der Graphit-moderierten Reaktoren vom Typ RBMK-1000 im besonderen unterstrichen.
Wer das Buch von Zhores A. Medwedjew gelesen hat, wird sich lebhaft vorstellen können, wie auch bei dem jüngsten Störfall eine Panne zur anderen kam. Dieses Mal war es zum Glück nur die Turbinenhalle, die am Ende in Trümmern lag, und es wurde keine Radioaktivität freigesetzt. Dennoch wurden erneut Ängste und Erinnerungen wach an jenes apokalyptische Szenario vom 26. April 1986, bei dem durch eine Summierung technischer und menschlicher Fehler der Reaktor des Blocks 4 explodierte und die bislang größte Katastrophe in der Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernkraft ihren Lauf nahm.
Nach Medwedjews Darstellung bestand der erste Fehler schon darin, daß das Kernkraftwerk im Dezember 1983 "planmäßig" fertiggestellt und in Betrieb genommen wurde. Planmäßig bedeutete im realexistierenden Sozialismus nämlich, daß man fünfe grade sein ließ (schon um die ebenfalls planmäßig fällig werdenden Prämien und Orden für alle Beteiligten nicht zu gefährden). So verschloß man auch beide Augen vor der Tatsache, daß bei den Reaktoren in Tschernobyl der Schutz gegen Stromausfall nicht gewährleistet war: Ein wichtiges Sicherheitsmerkmal des RBMK-Systems bestand darin, daß die Turbogeneratoren im Fall der Abschaltung noch mindestens 50 Sekunden lang Notstrom für die Kühlpumpen liefern sollten, bis die Notstromaggregate auf Touren gelangt waren. Die diesbezüglichen Tests verliefen aber negativ. Erst drei Jahre später - möglicherweise als Folge des neuen Klimas unter Gorbatschow - wollte man das Versäumte nachholen und die Rotationsenergie des auslaufenden Generators in Verbindung mit einem neuen Spannungsregler testen.
Nun kam ein Fehler zum anderen: Zunächst wurde der Test aus unerfindlichen Gründen um etliche Stunden verschoben, so daß er von teils erschöpftem, teils unvorbereitetem Personal durchgeführt wurde. Bewußt setzte man allerlei Sicherungssysteme außer Kraft. Ein junger, unerfahrener Operateur fuhr die Regelstäbe tiefer ein, als geplant war. Statt den mißlungenen Test abzubrechen, wurde versucht, die Leistung wieder zu steigern. Durch die verminderte Leistung war jedoch die "Xenonvergiftung" beschleunigt worden. Um diesen und andere Umstände auszugleichen, wurden immer mehr Regelstäbe in unzulässiger Weise nach oben gefahren. Als die kritische Situation endlich erkannt und die Schnellabschaltung betätigt wurde, war es bereits zu spät, weil die Überhitzung die Brennelemente zerstört hatte und die Regelstäbe sich nicht mehr in den Graphit einfahren ließen, der beim RBMK-1000 als Neutronenmoderator dient. Durch Bruch von Leitungen und einströmendes Wasser kam es zu Dampfexplosionen, und schon 20 Sekunden nach der Notabschaltung flog die Decke des Reaktorgebäudes in die Luft.
Nach der Katastrophe wurden weder die Bewohner der umliegenden Orte gewarnt noch der Zivilschutz verständigt. Die Reaktorblöcke 1 und 2 arbeiteten den ganzen folgenden Tag weiter. Fast die gesamte Schicht verblieb normal im Werk. Die herbeieilenden Feuerwehren hatten größtenteils keine Ahnung von der tödlichen Strahlung und unternahmen den unsinnigen Versuch, den Graphitbrand mit Wasser zu löschen. Und so weiter, und so fort. Noch Stunden später glaubte die Kraftwerksleitung, daß lediglich eine kleine Dampfexplosion stattgefunden habe, die zwar zwei Tote gefordert, den Reaktorkern aber nicht zerstört habe. Dabei bildete der Reaktorkern längst eine glühende Masse. Aber Direktor und Chefingenieur schenkten dem Bericht von Augenzeugen (die diesen Anblick mit dem Leben bezahlten) einfach keinen Glauben. Erst am dritten Tag nach der Katastrophe brachten die sowjetischen Medien einen kurzen Bericht, und auch das nur unter dem Druck des Auslands, wo Wissenschaftler wegen erhöhter radioaktiver Werte Alarm geschlagen hatten.
Im weiteren Teil seines Buches beschreibt Medwedjew die Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl auf die Umwelt, die Folgen für die Landwirtschaft, die gesundheitlichen Folgen in der Sowjetunion und die globalen Auswirkungen. Weitere Kapitel befassen sich mit dem sowjetischen Atomenergieprogramm, früheren Atomunfällen in der Sowjetunion und der Zukunft der Kernenergie nach Tschernobyl. Medwedjew verweist auf die Tücken des gigantischen Wasserkraftwerk-Programms der UdSSR, die ein Hauptgrund für die Forcierung des Kernenergie-Ausbaues waren, und stellt fest, daß der Sowjet-union nunmehr als einzige entwicklungsfähige Option nur noch die Kohle bleibe. Nebenbei erfährt der Leser noch manches andere, etwa über den weltweiten (Still-)Stand der "Schneller Brüter"-Technologie.
Der Verfasser ist Zwillingsbruder des bekannten Historikers und Systemkritikers Roy Medwedjew. Er lebt seit seiner Ausbürgerung 1973 in London. 1990 erhielt er durch Gorbatschow die sowjetische Staatsbürgerschaft zurück. Er hat bereits in den siebziger Jahren auf eine schwere Katastrophe aufmerksam gemacht, die sich 1957 durch unsachgemäße Lagerung von nuklearen Abfällen im Ural ereignete und - wie so manches andere nukleare Desaster im Osten - verheimlicht worden war.
In seiner Schlußbetrachtung sieht Medwedjew die Katastrophe von Tschernobyl als "Auslöser des Zusammenbruchs des kommunistischen sowjetischen Imperiums und des Endes der nuklearen Träume". Ferner meint er: "Die Katastrophe von Tschernobyl bedeutet nicht das Ende der Atomenergie, aber sie hat die Vorstellung zerstört, daß wir uns fast gänzlich von dieser Energieform abhängig machen könnten."
(PB 10/91/*leu)