Udo Leuschner / Zur Geschichte des deutschen Liberalismus |
Inhalt |
Porträt Friedrich Naumanns aus "Das Blaue Buch von Vaterland
und Freiheit" mit Auszügen aus seinen Werken, das 1913 im Verlag
Karl Robert Langewiesche erschien. Friedrich Naumanns "nationalsoziale" Neubelebung des Liberalismus |
Der zeitgenössische Historiker Karl Lamprecht beobachtet seit etwa 1879 eine "Zersetzung" der Nationalliberalen mit einhergehendem "Aufschwung des Linksliberalismus": Die Anhänger des alten Wirtschaftsliberalismus, die in der Nationalliberalen Partei zur Minderheit geworden sind, spalten sich ab und stoßen zu den "innerlich am wenigsten veränderten Resten des alten Bürgertums mit ihrem Festhalten an politischen Ideologien" (1). Der Aufschwung des Linksliberalismus resultiert also aus der Zersetzung der Nationalliberalen, die ihrerseits eine Folge des Vordringens der "gebundenen Unternehmung" ist, wie Lamprecht die wirtschaftlichen Monopolisierungstendenzen umschreibt.
Der so gestärkte Linksliberalismus besteht zunächst aus einem Mit-, Neben- und Gegeneinander von alten freiheitlichen Ideen und Manchester-Liberalismus. Die Gründung der "Deutschen Freisinnigen Partei" im März 1884 erfolgt in der Absicht, beide Richtungen zwanglos miteinander vereinigen zu können. In Wirklichkeit besteht jedoch zwischen beiden eine unlösbare und sich eher noch verschärfende Spannung. Sie führt 1893 zur Spaltung der Freisinnigen in die "Freisinnige Volkspartei" unter Eugen Richter und die "Freisinnige Vereinigung" unter Führung von Rickert. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es in der "Fortschrittlichen Volkspartei" zur erneuten Vereinigung beider Richtungen unter Einschluß des besonders geprägten süddeutschen Linksliberalismus.
Daß es schließlich doch zu dieser Wiedervereinigung kommt, erklärt sich weniger aus dem Studium des bürgerlichen Lagers als durch einen Seitenblick auf jene Partei, die inzwischen bei den Reichstagswahlen die größten Erfolge verbuchen kann. Der so entstehende, großbürgerlich aufgefrischte Linksliberalismus kann als Reaktion auf das Erstarken der Sozialdemokratie verstanden werden, die in die unteren Schichten des bürgerlichen Lagers einzubrechen droht. Es handelt sich um einen Linksliberalismus von mehr oder weniger demagogischer Art, der bestimmte Schichten des Bürgertums unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Bewußtseinslage an die Politik des Großkapitals anzubinden versucht.
Sehr deutlich wird dies in der Gestalt Friedrich Naumanns, der den alten Liberalismus einer "nationalsozialen" Verjüngungskur unterziehen möchte. Schon sein Werdegang zeigt, daß er mit den Rauschebärten von der Fortschrittspartei, die das märzliche Gedankengut in Ehren halten, wenig gemeinsam hat. Er kommt aus einem sehr konservativen Milieu. Sogar in der wohlwollenden Biographie von Theodor Heuss wird der Vater - ein sächsischer Pfarrer - als Vertreter der "schroffen Orthodoxie" und als Leser der ultrakonservativen "Kreuzzeitung" erkennbar. Schon bei der Versetzung vom Dorf in die Kleinstadt prallt der Vater mit dem liberaler denkenden Bürgertum seiner neuen Gemeinde zusammen. Zu Hause verbreitet er "einen gewissen Druck puritanischen Geistes" (16).
Gemäß dem Wunsch des Vaters wird Naumann ebenfalls Pfarrer. Als Student ist er streng bismarckisch gesinnt. Dann stößt er zum Kreis des antisemitischen Hofpredigers Adolf Stoecker, der mit "christlich-sozialer" Demagogie in die Arbeiterschaft einbrechen möchte. Hinter Stoecker steht die Fronde von Junkern, Kohle und Stahl. Allerdings hat der Hofprediger nur sehr mäßigen Erfolg und macht sich mit seiner zügellosen antisemitischen Hetze sogar in den eigenen Kreisen unbeliebt. Naumann löst sich allmählich von Stoecker. "Es gibt keine Sozialpolitik der Bergpredigt, keine evangelische Fabrikordnung". erkennt er. An die Stelle des "christlichen Sozialismus" Stoeckers setzt er einen "national" und "liberal" eingefärbten "Sozialismus". Gleichzeitig wechselt Naumann aus dem Lager von Junkern, Kohle und Stahl in das der neuen Industrien über, das durch Namen wie Siemens, Abbé und Bosch charakterisiert wird. Besonders in Bosch findet Naumann einen tatkräftigen Förderer.
In der 1895 gegründeten Zeitschrift "Die Hilfe" verschafft sich Naumann die Plattform, von der aus er seine "national-sozialen" bzw. "liberalen" Losungen verkündet. 1897 scheidet er aus dem Pfarramt aus und widmet sich von da an nur noch der Politik. Was den gelernten Theologen plötzlich zum Liberalismus bekehrt, ist weniger das alte liberale Freiheitsmotiv, das inzwischen in Wilhelm Liebknecht oder August Bebel glaubwürdigere Interpreten gefunden hat. Naumann fasziniert vielmehr der Umstand, daß der Liberalismus im Vormärz eine Volksbewegung unter Einschluß aller anti-feudalen Kräfte gebildet hat. Arbeiter, Handwerker, Bauern und Bourgeoisie in einer Front - das ist genau das Konzept, welches die herrschenden Kreise brauchen, um der sozialdemokratischen Lehre vom Klassenkampf das Wasser abzugraben.
"Es wächst unter uns so etwas wie ein neuer Glaube", formuliert der gelernte Pastor sein politisches Credo. "Dieser neue Glaube sucht Religion für uns, er hat sie noch nicht, sondern sucht sie. Sein Vorzug ist die Ehrlichkeit, mit der er sich zur Wissenschaft stellt. Er ist ehrlich, aber deshalb unpoliert und ungeordnet. Ein Glaube, der für jetzige Menschen etwas sein soll, muß absolut offen zu den Fragen der Erkenntnistheorie, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft stehen. Im Bunde mit ihnen muß er den Menschen ihr Lebensziel verkündigen." (2)
Naumann ist ein Bewunderer der großen Industrie, des stampfenden Maschinenzeitalters, der ratternden Transmissionen, des technischen Fortschritts und - vor allem - der Macht. Der Wille zur Macht müsse in die "neue deutsche Linke" fahren, fordert er, wobei er dem Machtwillen der emporstrebenden Elektro- und Chemiekonzerne eine geschickte Umdeutung verleiht (8). "Liberalismus muß wieder Volksglaube werden", verlangt er und gibt eine bezeichnende Definition: "Wer darauf noch hofft, der ist liberal." (9)
Daß ein wesentlicher Zweck dieses "neuen Glaubens" die geistig-moralische Aufrüstung der Massen für einen bevorstehenden Krieg ist, bringt Naumann ganz unverhohlen zum Ausdruck. "Der durchschnittliche Krieg der Neuzeit ist eine kapitalistische Aktion. Dies muß nicht verschleiert, sondern im Gegenteil in aller Nacktheit hervorgehoben werden, wenn wir den Krieg und die Kriegsrüstung volkswirtschaftlich würdigen wollen." (3)
Diese Sätze schreibt Naumann wohlgemerkt vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Sie sind nicht als Kritik gedacht, sondern dienen der Rechtfertigung für die "kolossalen Opfer unseres Militärhaushaltes". Man müsse "um die deutsche Existenz auf der Erdkugel kämpfen" (4). Der Krieg der Zukunft sei aber "ein volkswirtschaftliches Organisationsproblem allerschwerster Art und eine technische Leistung, wie noch nie eine erfordert wurde" (5). Um diesen Anforderungen gewachsen zu sein, müßten alle Kräfte des Volkes mobilisiert werden. Besonders gelte es, die moralischen Kräfte und die Disziplin der Arbeiterbewegung in den Dienst des deutschen Imperialismus zu stellen: "Die deutsche Arbeiterbewegung ist der größte freiwillige Militarismus der Erde." (6)
Es fügt sich gut in die liberale Kostümierung von Naumanns nationalsozial-imperialistischer Ideologie, daß das Deutschland der Jahrhundertwende noch immer stark mit Relikten der alten Feudalordnung durchsetzt ist. Für die neuen Industrien der Elektro- und Chemiebranche, deren politische Ziele Naumann propagiert, ist es ein relativ gefahrloses und sogar nützliches Unterfangen, zum Sturm auf die feudale Fraktion nebst ihren Verbündeten von Kohle und Stahl zu blasen: "Wir wollen nicht mehr von den sinkenden Ständen regiert werden, weil sie uns abwärts ziehen", verkündet Naumann emphatisch. "Es ist wieder ein allgemeiner deutscher Liberalismus nötig, eine Volkspartei, in der Demokratie und Nationalsinn beieinander wohnen, eine breite schaffende Mehrheitspartei mit freien neuen Gedanken." (7)
Die Monarchie selber nimmt Naumann aus, wenn er gegen die "sinkenden Stände" zu Felde zieht. Er ist - entgegen aller linksliberalen Tradition - keineswegs ein Republikaner. Ihm schwebt sogar eine Art Volkskaisertum vor: Ein Bündnis der herrschenden Hohenzollern-Dynastie mit Liberalen und Sozialdemokraten, das den deutschen Imperialismus mit neuer Kraft erfüllen und befähigen soll, in Europa die unumschränkte Führung zu übernehmen. Er suggeriert, daß die Monarchie und die neue deutsche Linke im Grunde natürliche Partner seien, sofern der Kaiser seine soziale Gesinnung offener zeige und die Sozialdemokraten sich etwas mehr in vaterländischer Gesinnung übten.
Den "Ostelbiern", wie er die junkerlichen Großgrundbesitzer nennt, wirft Naumann vor, die Zeichen der Zeit nicht zu erkennen. Genauso legt er sich mit den Kohle- und Stahlbaronen vom Schlage eines Freiherrn von Stumm-Halberg an, der seine Arbeiter in moderner Leibeigenschaft hält. Naumann weiß, daß die bürgerliche Ordnung nur überlebensfähig ist, wenn sie sich gegenüber der rebellischen Arbeiterbewegung elastisch und kompromißbereit verhält. Es hat für ihn keinen Sinn, gewisse Realitäten zu verleugnen. So gelangt er zu dem marxistisch anmutenden Satz: "Industrie ist unmöglich ohne Proletariat. Die Neuzeit kommt imperialistisch-proletarisch." (10) - Mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, daß er Imperialismus und Proletariat nicht als unversöhnliche Gegensätze, sondern im Sinne eines partnerschaftlichen Nebeneinanders begriffen sehen möchte. In ähnlicher Weise versucht er, den zunehmend gesellschaftlichen Charakter der Produktionsweise im hoch entwickelten Kapitalismus als automatisch eintretende Vergesellschaftung der Produktionsmittel erscheinen zu lassen:
"Sicherlich will die neue Oberschicht kapitalistisch sein und nicht sozialistisch, aber es liegt in der Ironie der Welteinrichtung, daß ein großgewordener Kapitalismus von selbst sozialistische Züge aufweist, indem er Betriebe herstellt, die nur zum Schein noch Privatbetriebe sind. Je vollendeter das Prinzip des Verbandsunternehmens sich auslebt, desto schneller wird der Klassenegoismus durch gemeinsame Verwaltung in feste Grenzen gebracht. Der einzelne Unternehmer kann ein 'Ausbeuter' sein wollen, das Syndikat wird natürlich auch gewinnen wollen, aber es kann nicht kurzsichtigen Raubbau treiben, wenn es sich nicht selbst ruinieren will. Die Volkswirtschaft gewinnt somit an Solidität und Stetigkeit, wird berechenbarer in ihrem Verlauf und sucht auch gegenüber der Arbeiterschaft Streitigkeiten, Stockungen und Krisen nach Möglichkeit auszuschalten. Das Wahrzeichen des Industriestaates wird der Tarifvertrag sein, welcher wohl nicht die letzte Lösung der sozialen Frage ist, aber eine höchst entwicklungsfähige Form der beiderseitigen Verständigung."(11)
Das ist im Prinzip dieselbe Betrachtungsweise, wie sie zu dieser Zeit die "Revisionisten" innerhalb der Sozialdemokratie pflegen. Die Übereinstimmung geht bis zur Verbeugung vor Karl Marx: Naumann bewundert dessen "universalen Blick" und die "Fortschrittlichkeit" seiner Lehre. Solche Lippenbekenntnisse kosten nicht viel. Karl Marx ist tot, und auch innerhalb der Sozialdemokratie wird die Grundlinie inzwischen vom Revisionismus bestimmt. Nichts liegt da näher, als die bereits vorhandene politische Organisation der Arbeiterklasse - den "größten freiwilligen Militarismus der Erde" - als Integrationsinstrument zu verwenden und in den Dienst des Imperialismus zu stellen. Kaiser Wilhelm II. bringt diese demagogische Konzeption zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf die Formel: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche." Naumann sagt es vorher schon ähnlich. Er kennt ebenfalls keine Parteien mehr, sondern nur noch Liberale:
"Daran, daß der bürgerliche Liberalismus ohne Sozialdemokratie noch einmal wieder zur politischen Führung gelangt, kann auch von seinen wärmsten Vertretern nicht mehr im Ernst geglaubt werden. Das liberale Prinzip wird siegen, aber nicht ohne den Liberalismus der Masse. Die Frage ist nicht, ob der bürgerliche Liberalismus die Sozialdemokratie wieder in sich aufsaugen wird. Das kann er nicht mehr. Die Frage ist, ob sich die Sozialdemokratie so entwickeln wird, daß auch sie die altliberale Aufgabe übernimmt und es den ehrlich liberalen Teilen des Bürgertums ermöglicht, sich der von ihr getragenen Gesamtbewegung ohne Opfer ihrer Überzeugungen anzuschließen." (12)
Folgt man der Biographie von Theodor Heuss, so entstand Naumanns Ideologie in ihren Grundzügen bereits, als er noch ein unbedeutender Geistlicher war, der sich die Einbindung der Sozialdemokratie in das herrschende System durch Ausweitung der "Inneren Mission" der evangelischen Kirche erhoffte (17). Diese Vorstellung hat er anscheinend später auf den "Nationalsozialen Verein" und schließlich auf den Linksliberalismus übertragen. Dazu paßt auch Naumanns Erkenntnis, daß die Sozialdemokratie "die erste große Häresie der evangelischen Kirche" darstelle (18).
Naumann ist selber ein Häretiker, wenn man das soziale Milieu bedenkt, aus dem er kommt. Sein Vater hadert lange mit ihm, weil er nicht auf kürzestem Wege die geistliche Laufbahn einschlägt. Für die orthodoxe Kirchenfrömmigkeit hat der Sohn nicht viel übrig: "Ein alter Glaube ist wie eine Rittergeschichte in Zeiten, wo man keine lebendigen Ritter mehr hat." (19)Das unterscheidet ihn von Stoecker, der die Arbeiter durch Kanzel- und Wirtshausreden zur traditionellen kirchlichen Frömmigkeit bekehren möchte. Im Gegensatz zu seinem ursprünglichen Mentor Stoecker betrachtet Naumann die Sozialdemokratie nicht ohne Sympathie, identifiziert sich in gewisser Weise sogar mit ihr und ihrem Schicksal. Er empfindet sie gewissermaßen als die kollektive Verkörperung seiner individuellen Häresie.
Naumanns Häresie verbleibt jedoch innerhalb der autoritären Persönlichkeit, wie sie nach dem Scheitern der liberalen Hoffnungen zur bürgerlichen Norm wurde, und wie sie Heinrich Mann in seinem "Untertan" herausgearbeitet hat. Wenn Naumann die llberale Bewegung von 1848/49 beschwört, so ist das keine Kampfansage an das Regime des Kaisers, sondern das falsche Versprechen, das liberale Trauma ungeschehen zu machen. Er will Monarchie und Arbeiterschaft versöhnen. Er will soziale Gegensätze zu einer Volksgemeinschaft harmonisieren, die sich mit um so größerer Aggressivität nach außen wendet. Alle Bescheidenheit, Gesittung und Nächstenliebe enden für Naumann an den Grenzen der Nation, genauso wie sie im bürgerlichen Alltag an den Grenzen der Familie zu enden pflegen, wenn der kapitalistische Kampf ums Dasein beginnt. Sein sozial gesalbter Imperialismus ist ein Doppelgänger-Wesen: Einmal tritt er als Dr. Jekyll auf, wenn er die Ausbeutung der ostelbischen Landarbeiter beklagt; und das andere Mal als Mr. Hyde, wenn er die berüchtigte "Hunnen-Rede" des Kaisers verteidigt.
Den Nährboden, auf dem diese brutale Mischung aus Reformgeisterei und imperialistischer Machtpolitik entstehen und gedeihen kann, erhellen statistische Angaben über die soziale Zusammensetzung von Naumanns Anhängerschaft: Das mit Abstand stärkste Kontingent stellten Lehrer, Professoren und Pastoren. Auch Schriftsteller und Redakteure waren unverhältnismäßig stark vertreten. Es gab wohl keine andere politische Organisation des Kaiserreichs, in der das Bildungsbürgertum derart dominierte. - Ein Bildungsbürgertum, das oft in materieller Bedrängnis lebte und Mühe hatte, eine "standesgemäße" Lebensführung zu sichern. Die allgemeine Autoritätsfixierung wurde bei diesem Bildungsbürgertum in der Regel noch durch die existentielle Abhängigkeit von Staat oder Kirche verstärkt. Sein Aufbegehren verharrte deshalb in einem spirituellen Reformismus. Es verinnerlichte die junkerlich-imperialistische Staatsräson, um sie als Militarismus und Chauvinismus wieder nach außen zu wenden. Auf diese Weise entstand zum Beispiel eine ganze Generation von Gymnasialprofessoren, die ihren Schülern den Horaz-Vers "dulce et decorum est pro patria mori" als Quintessenz humanistischer Bildung einbleute - daß es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben.
Naumann ist somit kein Ideologe im Sinne eines dezidiert bürgerlichen Liberalismus, der bestenfalls nach Mitläufern aus der Arbeiterklasse Ausschau hält. Er sieht das Absterben des Liberalismus und seiner sozialen Basis voraus und setzt an seiner Stelle auf die Sozialdemokratie. Sein Ziel ist es, große Teile der Bevölkerung über unterschiedliche Klassen und Schichten hinweg unter einer zugkräftigen Gemeinsamkeitsparole zusammenzuschließen. Naumanns "Liberalismus" bildet damit in gewisser Hinsicht ein protestantisches Gegenstück zum politischen Katholizismus in Gestalt der Zentrumspartei. Die liberale Idee wird losgelöst von ursprünglicher ökonomischer Voraussetzung und sozialer Basis. Sie verselbständigt sich zur puren Ideologie im Sinne falschen Bewußtseins. Sie ist Bestandteil einer Demagogisierung der Politik.
Naumann unterschätzte allerdings die Verwurzelung der Arbeiterschaft in der Sozialdemokratie und das Beharrungsvermögen der Freisinnigen. Sein 1896 gegründeter "Nationalsozialer Verein" fand nie eine nennenswerte Anhängerschaft und mußte schon 1903 liquidiert werden. Naumann trat daraufhin mit seinen Gefolgsleuten der "Freisinnigen Vereinigung" bei, die sich 1910 mit der "Freisinnigen Volkspartei" Richters zur "Fortschrittlichen Volkspartei" vereinigte. 1907 zog er als Abgeordneter Heilbronns in den Reichstag ein. 1919 gelangte er als Abgeordneter von Berlin in die Nationalversammlung und wurde erster Vorsitzender der neugegründeten Deutschen Demokratischen Partei. Im gleichen Jahr starb er in Travemünde.
Daß der angeblich so sozial und reformerisch gesinnte Naumann seinen bankrotten Verein ausgerechnet den wirtschaftsliberalen Ultras von der "Freisinnigen Vereinigung" zuführte, hat seinerzeit viele Anhänger und Sympathisanten verstört. "Ich habe noch ein Vierteljahrhundert später Männer der nationalsozialen Bewegung von damals mit der tiefsten Erschütterung von dieser Fahnenflucht ihres vergötterten Führers sprechen hören", schrieb der DDP-Politiker Willy Hellpach. Er selbst müsse freilich "das ruchlose Geständnis ablegen, daß ich zuerst laut herausgelacht habe, weil mir im Augenblick das Groteske dieses Endes einer mit besonders hohem Pathos aufgezogenen Bewegung alles andere zu überwiegen schien". (13)
"Aus einem Propheten des Evangeliums ist er einer der Propheten der sozialen Reform geworden", spottete der Nationalökonom Gustav Schmoller 1912 über Naumann. "Er wollte eine national-soziale Partei gründen, was ihm mißlang; aber es ist ihm gelungen, die fortschrittlich-manchesterlichen Parteipolitiker mit solch starkem Tropfen sozialen Öls zu salben, daß die Vorfahren der heutigen Volkspartei ihre heutigen Nachfahren kaum mehr erkennen würden."
Es macht die zweifelhafte Größe Naumanns aus, daß er sich der ärgsten Beschränktheit des herrschenden Konservatismus entzog und die "soziale Frage" nicht länger links liegen ließ. Er überwand damit aber nicht etwa diesen Konservativismus, sondern modernisierte ihn lediglich. Er verwandelte ihn zur massenwirksamen Ideologie. Die geringe politische Resonanz, die sein "Nationalsozialer Verein" fand, widerspricht dem nicht. Sie unterstreicht vielmehr, daß hier ein ideologischer Prozeß vonstatten ging, dessen massenwirksame Stunde erst später schlagen sollte. Was Naumann im Reagenzglas des Bildungsbürgertums als "nationalen Sozialismus" zusammenbraute, barg in der Tat schon Ingredienzien des späteren Nationalsozialismus. Das psychologische Bindeglied zwischen beiden bildet die Aggressivität und Destruktivität des autoritären Charakters. Von Naumanns Verherrlichung nackter Macht-, Militär- und Kolonialpolitik oder seiner vorbehaltlosen Bejahung des Duells zur Austragung bürgerlicher Ehrenhändel führt ein nicht minder deutlicher Weg zur Ideologie des Faschismus wie vom Chauvinismus der "Alldeutschen" oder dem Paukboden der schlagenden Verbindungen. Was noch fehlte, war ein sozialer Katalysator, der die Masse des Kleinbürgertums für das "national-soziale" Paradigma empfänglich machen konnte. Diesen Katalysator lieferte dann später die Depravierung des Kleinbürgertums im Gefolge von Inflation und Weltwirtschaftskrise. Der Zusammenbruch der traditionellen Autoritäten in Staat und Kirche gab dem autoritätsfixierten Charakter zugleich einen ausgeprägten Zug zum Zynismus und Nihilismus. Führende Nazis von Goebbels bis Himmler entstammten genau jenem Milieu, aus dem sich einige Jahrzehnte zuvor der "Nationalsoziale Verein" rekrutiert hatte.
Dies heißt nun freilich nicht, daß der Nationalsoziale Verein insgesamt und geradlinig als Vorläufer des Nationalsozialismus anzusehen sei. Er war vielmehr eine höchst ambivalente Vereinigung, die von ständigen Zerreißproben zwischen einem mehr "sozialen" und einem mehr "nationalen" Flügel belastet war. Jenes ideologische Moment, das ihn in psychologische Wahlverwandtschaft zum Faschismus bringt, ging erst aus dieser Widersprüchlichkeit hervor und wurde durch Naumann als Integrationsfigur der ambivalenten Strömungen verkörpert. Soweit von einer psychologischen Wahlverwandtschaft zum Faschismus gesprochen werden kann, führt diese auch eher zum Strasser-Flügel der NSDAP. Der Antisemitismus des Hitler-Flügels wäre hingegen eher als Fortsetzung der christlich-sozialen Demagogie Stoeckers zu sehen.
Jedenfalls besteht in dieser Hinsicht mehr als eine nur zufällige Namens-Ähnlichkeit. Dies scheint auch den Nationalsozialisten geschwant zu haben: Sie erlaubten dem Naumann-Schüler Theodor Heuss 1937 die Veröffentlichung der Biographie seines Lehrmeisters nur unter der Bedingung, daß Naumanns "Nationalsozialer Verein" dabei nicht den Eindruck eines Vorläufers der nationalsozialistischen Bewegung erwecken dürfe (14).
Gleichwohl scheint das Propagandaministerium Interesse an der Verbreitung des Naumann-Buches gehabt zu haben. In seiner Anweisung Nr. 129 befahl es der Presse: "Das Naumann-Buch von dem früheren Abgeordneten Theodor Heuss kann durchaus positiv besprochen werden. Gegen das Buch bestehen keinerlei Bedenken. Es ist von der Partei geprüft worden. Beanstandungen waren nicht nötig. Der Verlag steht dem Prop.-Min. nahe." (15)