LeitseiteKarl May als "Lebenshilfe"Über einen Klassiker der Trivialliteraturvon Udo Leuschner |
Es gibt wohl keinen anderen deutschen Schriftsteller, der so intensiv gelesen wurde und sein Publikum so nachhaltig beeinflußt hat wie Karl May. Bis 1974 war die deutsche Gesamtauflage seiner Werke auf 50 Millionen gestiegen. Daneben sind seine Romane in mehr als zwanzig Fremdsprachen übersetzt worden. Alle diese Bücher entstanden zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg. Ihr beispielloser Publikumserfolg setzte bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein und hält bis heute an. Die Leserschaft rekrutiert sich aus jung und alt, aus unterschiedlichen politischen Lagern und aus allen sozialen Schichten. Zu den begeisterten Karl-May-Lesern gehörten ein Ernst Bloch ebenso wie Adolf Hitler, Goering und Goebbels.
Freilich ist der Enthusiasmus bei Lesern der Rechten weitaus deutlicher und kritikloser ausgeprägt. So hat Hitler nach seiner Machtergreifung, wie Otto Dietrich bekundet, alle Bände von Karl May nochmals gelesen und ihn als jenen Schriftsteller bezeichnet, der ihm die Augen für die Welt geöffnet habe. (1) Wie Albert Speer berichtet, hat Hitler den Indianerhäuptling Winnetou als das Musterbeispiel eines Kompanieführers empfohlen und beklagt, daß an deutschen Schulen die Werke Goethes und Schillers anstelle derer Karl Mays gelesen wurden. (2)
Schon zu Lebzeiten war der Autor persönlich wie literarisch umstritten. Er wurde ebenso verehrt wie geschmäht und angefeindet. Dabei ging es vor allem um seine kriminelle Vergangenheit und um die Legende, er habe tatsächlich jene Länder bereist, in denen seine Abenteuergeschichten handeln. Pädagogisch wurde ihm ein verderblicher Einfluß auf die Jugend nachgesagt. Von der Literaturwissenschaft wurden seine Werke, als der Trivialliteratur zugehörig, lange Zeit keiner Beachtung für würdig erachtet.
In der Tat braucht über das Niveau der Romane Mays nicht diskutiert zu werden. Sie boten den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts eine Art "gedrucktes Privatfernsehen". Aber gerade deshalb waren sie, wie der televisionäre Schwachsinn von heute, hochgradig symptomatisch für eine bestimmte Geistesverfassung. Daß der Medienapparat damals in allen seinen Erscheinungsformen sich des gedruckten - allenfalls beiläufig mit Illustrationen versehenen - Wortes bediente, läßt eine Figur wie Karl May noch exemplarischer werden. Als Produzent von Trivialliteratur, von massenwirksamen "Plots", verweist er auf Grundmuster der heutigen audio-visuellen Medien.
Karl May wird am 25. Februar 1842 im erzgebirgischen Städtchen Ernsttal geboren. Sein Vater gehört zu den Webern, denen die Industrialisierung ihre elende Existenz gänzlich zu ruinieren droht. Seine Kindheit ist freudlos, von Hunger, harter Arbeit und Schlägen des cholerischen, oft betrunkenen Vaters begleitet. Von seinen 13 Geschwistern sterben 9 in früher Kindheit. Vermutlich hat die Unterernährung Mitschuld daran, daß er kurz nach seiner Geburt erblindet. Angeblich erhält er erst im fünften Lebensjahr das Augenlicht zurück. Sein Vater will etwas Besseres aus ihm werden lassen. Der hilflose, realitätsferne, geistig und emotional verelendete Sohn besucht ein Lehrerseminar und besteht 1861 die Kandidatenprüfung. Die Laufbahn als Volksschullehrer zerschlägt sich jedoch infolge verschiedener Vorkommnisse. Schon seine Ausbildung wäre fast gescheitert, weil er Weihnachten 1859 einige Talglichter aus dem Seminar mit nach Hause genommen hatte. Kurz nach seiner Anstellung als Hilfslehrer in Glauchau wird er wegen angeblicher Annäherungsversuche an die Frau seines Vermieters entlassen. Die Anstellung an einer Fabrikschule endet, weil er Weihnachten 1861 Tabakspfeife, Uhr und Zigarrenspitze eines Stubengenossen mit nach Hause nimmt. Vermutlich will er mit den Utensilien nur renommieren. Es wird ihm jedoch als Diebstahl ausgelegt und bringt ihm die erste Verurteilung zu sechs Wochen Gefängnis ein.
Nach der endgültigen Zerstörung der beruflichen Perspektive als Lehrer verbringt May eineinhalb Jahre untätig, in trostloser Stimmung im Elternhaus. Im Sommer 1864 beginnt er mit einer Serie von Hochstapeleien und Betrügereien, die mit der Verurteilung zu vier Jahren und einem Monat Arbeitshaus enden. Aufgrund guter Führung vorzeitig entlassen, setzt er seine Hochstapeleien in immer phantastischeren Verkleidungen fort. Unter anderem gibt er sich als "natürlicher Sohn des Prinzen von Waldenburg" aus. Er hält auch schon mal seine Verfolger mit einer Pistole in Schach und vermag den Polizisten bei einem Transport zu entkommen. Als er erneut festgenommen wird, versucht er, wie schon früher, seine wahre Identität zu verleugnen. Im März 1870 wird er zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. In der nun folgenden Haft entstehen seine ersten literarischen Entwürfe.
Diese biographische Skizze, so grob sie ist, läßt einen Menschen erkennen, dessen Bedürfnis nach Anerkennung, sozialem Aufstieg und Selbstverwirklichung an der sozialen Realität scheitert. Der verzweifelte Versuch, die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu überspannen, führt von Bagatelldelikten bis ins Zuchthaus. Vermutlich ist es die jahrelange Haft, die Karl May endgültig auf die imaginäre Lösung des Konflikts durch schriftstellerische Tätigkeit verweist. Das unaufhörliche Schreiben phantasievoller Geschichten wird ihm neurotisches Bedürfnis und materielle Lebensgrundlage zugleich.
Mit dem Erfolg, der ihm ab den achtziger Jahren eine sorgenfreie bürgerliche Existenz garantiert, verwandelt sich die imaginäre Lösung sogar in eine reale Lösung. Damit entfällt aber noch keineswegs die zugrundeliegende Neurose. Im Gegenteil: Ab Mitte der neunziger Jahre vermischt der arrivierte Autor erneut Wahn und Wirklichkeit wie in den Hochstapeleien seiner frühen Jahre. Er gibt nun vor - und das keineswegs bloß aus Reklamegründen -, seine Abenteuer in Amerika, im Orient oder auf dem Balkan tatsächlich selbst erlebt zu haben. Er spricht angeblich alle Sprachen und Stammesdialekte wie Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Er behauptet, seine Werke seien "die Erfolge fast 30jähriger Reisen, Entbehrungen und Gefahren; sie sind, man kann das wörtlich nehmen, mit meinem Blute aus den Wunden geflossen, deren Narben ich heute noch an meinem Körper trage". Sein Arbeitszimmer in der neu bezogenen "Villa Shatterhand" läßt er mit Wunderwaffen und anderen Requisiten seiner Abenteuerromane ausstatten. Detailliert beantwortet er Leseranfragen wie die, weshalb er Winnetou als Heiden habe sterben lassen (Antwort: Er habe ihm die Nottaufe gegeben, dies aber nicht im Roman erwähnt, um die Gefühle andersgläubiger Leser zu schonen). Zur Erhöhung seiner bürgerlichen Reputation legt er sich außerdem einen falschen Doktortitel zu.
Der Erfolg Mays gedeiht auf dem Boden der "Kolportage". So werden damals minderwertige Druckerzeugnisse für den Volksgeschmack bezeichnet, die hauptsächlich durch ambulante Händler an den Mann und an die Frau gebracht werden. Sein erster Geschäftspartner nach der Haftentlassung ist der Kolportage-Verleger Münchmeyer. Er übernimmt die Redaktion von drei Wochenblättern, die er zum großen Teil mit eigenen Beiträgen füllt. Seine Texte bewegen sich zunächst im konventionellen Rahmen von "deutschen Dorfgeschichten" und verwandten Genres der Kolportage einschließlich Bordellszenen und sadistischer Passagen (die in späteren Bearbeitungen der Frühwerke getilgt werden). Die Schauplätze verlagern sich dann immer mehr ins Exotische. Im "Waldröschen" verfolgt ein Dr. Sternau die Schurken bereits durch alle Welt und weist die Züge jenes edelmütigen Übermenschen auf, der später als Kara Ben Nemsi bzw. Old Shatterhand mit der Person des Autors bzw. Ich-Erzählers identisch wird. (3)
Schon diese frühen Werke zeichnen sich durch einen ausgeprägten Eskapismus aus, der dem Verfasser wie seinen Lesern die Flucht aus der trostlosen Wirklichkeit in gehobene soziale Schichten und exotische Länder ermöglicht. Mays Werke sind zwar nicht wörtlich, wie er behauptet, aber doch metaphorisch "mit meinem Blut aus den Wunden geflossen, deren Narben ich heute noch an meinem Körper trage". Sie sind eine exotisch-phantasievolle Paraphrasierung der Persönlichkeit ihres Verfassers. Zum Beispiel wurzelt das ständig wiederkehrende Motiv von Gefangennahme und Befreiung sicher tief im Schicksal des Autors. Gleiches gilt für die Prahler und Hochstapler, die seine Romane bevölkern. Die übermenschliche Statur Kara Ben Nemsis bzw. Old Shatterhands, der an keiner noch so großen Gefahr zerbricht, erwächst zu ihrer fiktionalen Größe erst angesichts des realen Scheiterns des Autors in der Wirklichkeit.
Hinter dem falschen Schein von Eindeutigkeit, den die triviale Handlung erweckt, verbirgt sich eine enorme psychologische Vielschichtigkeit, die zu den unterschiedlichsten Formen der Identifikation einlädt. "Wer sich zu Mays Zeit als Oppositioneller fühlt, entdeckt scharfen Protest; wer den herrschenden Verhältnissen zustimmt, findet die Apologie; wer sich, wie es die Regel sein dürfte, beiden Seiten verbunden fühlt, kann sich auf die Elemente konzentrieren, auf die er jeweils Wert legt." (4)
Zum Beispiel verbindet May die unterwürfige Idealisierung der deutschen Verhältnisse mit der Glorifizierung ungebundener Freiheit im Wilden Westen, wo Schurkerei und Zwangsherrschaft ihre gerechte Bestrafung finden. Mitunter läßt er sogar einen rebellischen Trapper aus der nordamerikanischen Wildnis nach Europa kommen und kontrastiert ihn effektvoll mit der Bedrückung der alten Welt. Im zaristischen Rußland darf Sam Hawkens einen leibhaftigen Rittmeister als Vertreter der Staatsgewalt nach gutem Brauch teeren und federn. Natürlich handelt es sich dabei um die verdiente Strafe für einen Bösewicht. Die Legitimität des Zaren wird in keiner Weise in Frage gestellt. Dennoch wäre dieselbe Behandlung für einen preußischen Offizier unerhört. Die Entrückung ins Exotische dient als Mittel zur Verfremdung einer höchst naheliegenden, bedrückenden Wirklichkeit.
Daß May dieses Mittel bewußt anwendet, darf allerdings bezweifelt werden. Er bleibt zeit seines Lebens ein individueller Rebell, ein unpolitischer Mensch, dem sogar der Zugang zum bürgerlichen Revolutionsversuch, den er als Sechsjähriger miterlebt hat, vollkommen verschüttet ist. In seiner Autobiographie bringt er es fertig, die revolutionären Unruhen des Jahres 1848 in seiner Heimatstadt Ernsttal ins Gegenteil zu verfälschen: Die Empörung der hungerleidenden, entrechteten Bevölkerung erscheint ihm darin als eine vorübergehende Stimmung vorwitziger Aufsässigkeit, die durch den angeblichen Einsatz seines Vaters und anderer "besonnener" Leute in eine aus tiefster Volksseele getragene Bewegung zum Schutz des angestammten Herrscherhauses gemündet habe. (5)
Das Grundmuster, auf dem alle Romane Mays basieren, erfährt interessante Veränderungen mit der Karriere des Autors und wechselnden politischen Umständen. So trägt der Dr. Sternau aus dem "Waldröschen" noch Züge eines bürgerlichen, sozusagen nationalliberalen Helden, der wacker durchs adelige Milieu mit seinen Giftmischereien und Kindsunterschiebungen schreitet. In den späteren Romanen ist von einem zumindest latenten Gegensatz zwischen bürgerlicher und adeliger Gesellschaft nichts mehr zu spüren. Der Adel wird genauso bedingungslos als gesellschaftliche Leitfigur akzeptiert wie dies inzwischen von seiten des Bürgertums einschließlich des arrivierten Autors Karl May geschieht. Zugleich verwandelt sich der Dr. Sternau aus einem bodenständigen Kosmopoliten und Helden des liberalen Zeitalters in den Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand, der quasi als Expeditionskorps durch exotische, von der Zivilisation kaum berührte Gegenden streift und so die imperialistisch-kolonialistischen Machtansprüche des wilhelminischen Staates zum Ausdruck bringt. Das missionarische Pathos wird dabei durch die Omnipotenz und Edelmütigkeit des Helden wie auch durch die Form der Ich-Erzählung unterstrichen. Er ist ein Held, an dessen deutschem Wesen die Welt genesen könnte. May läßt ihn mitunter sogar an aktuellen politischen Brennpunkten agieren, wie "im Lande des Mahdi" oder "in den Schluchten des Balkan".
Eine wesentliche Prägung erhält das Werk Karl Mays durch den "Kulturkampf" Bismarcks gegen die katholische Kirche. Im Zuge einer propagandistischen Gegenoffensive gründet der katholische Verlag Pustet 1874 den "Deutschen Hausschatz". Es handelt sich dabei um ein bewußtes Gegenstück zur "Gartenlaube", die als Familienblatt des protestantisch-liberalen Bürgertums den Kampf gegen die politischen Machtansprüche der katholischen Kirche engagiert unterstützt. Pustet erkennt in Karl May einen Schriftsteller vom Format der "Gartenlauben"-Autorin Marlitt und gewinnt ihn als Mitarbeiter für den "Deutschen Hausschatz". Zwischen 1879 und 1898 erscheint die Mehrzahl von Mays Reiseromanen bei Pustet. Daneben beliefert May noch etliche andere katholische Verlage. (6)
Inhaltlich äußert sich die Verbindung Mays mit der katholischen Propaganda in dem seitenlangen religiösen Schwulst seiner Orient-Romane. Ob es sich bei einer Gestalt wie "Marah Durimeh" um echten Marien-Kult handelt oder eher um eine katholisierend vermummte Innerlichkeit protestantischer Herkunft oder gar um eine literarische Transposition des Jugendstils dürfte nicht so leicht zu entscheiden sein. Vermutlich waren alle diese Einflüsse wirksam. Jedenfalls zieht May vor der christlichen Religion genauso devot den Hut wie vor den profanen Gewalten. Die Identifikation mit dem katholischen Auftraggeber geht so weit, daß er sogar seine protestantische Konfession zu verleugnen versucht.
Der zeitweilige Einsatz für die katholische Propaganda dürfte einer der Gründe sein, weshalb Karl May um die Jahrhundertwende ins Visier liberal-protestantischer Kritik rückt. So nimmt 1901 die "Frankfurter Zeitung" eine Gerichtsverhandlung gegen zwei Freiburger Gymnasiasten, deren Hauptvergehen eine Brandstiftung im Gymnasium ist und die sich in der Verhandlung als May-Leser bekannt haben, zum Anlaß eines Berichtes unter der Überschrift "Gymnasiasten auf dem 'Kriegspfad'. (Karl May als Erzieher)". Der ironische Nachsatz, der auf das Langbehn-Opus "Rembrandt als Erzieher" anspielt, wird von May im Titel seiner Selbstverteidigungsschrift "Karl May als Erzieher" aufgegriffen, die 1902 in einer Auflage von 100000 Exemplaren erscheint und - als wolle er Langbehn auch hinsichtlich des Versteckspiels imitieren - angeblich "von einem dankbaren May-Leser" verfaßt wurde. (7) Auch von anderer, teilweise sogar katholischer Seite, wird Kritik an Mays Romanen geübt. Vor allem wird ein ungünstiger Einfluß auf die Jugend befürchtet. Eine wichtige Rolle spielen dabei die anonymen Frühwerke Mays für die Kolportage-Firma Münchmeyer, die ein geschäftstüchtiger Verleger 1899 gekauft hat, um sie unter dem Namen Karl Mays erneut zu vermarkten.
May macht es seinen Kritikern insofern leicht, als die Legende von den selbsterlebten Abenteuern schon dem gesunden Menschenverstand und erst recht einer Nachprüfung nicht standhalten kann. Auch der falsche Doktortitel und die falsche Konfessionsangabe kommen ans Licht. Weitaus verheerender wirkt sich allerdings die Enthüllung seiner kriminellen Vergangenheit aus. Treibende Kraft ist dabei der Journalist Rudolf Lebius. Dieser veröffentlicht die ihm bekannten dunklen Punkte, nachdem es May abgelehnt hat, auf die erpresserische Forderung nach einem "Darlehen" einzugehen. Damit beginnt eine rund achtjährige Auseinandersetzung mit schriftlichen Schmähungen und nervenaufreibenden Prozessen. Weitere Prozesse führt May gegen die Neuherausgabe und Umarbeitung seiner früheren Kolportage-Romane für Münchmeyer, die ihm äußerst peinlich geworden sind. Seine unglückliche Ehe endet 1903 mit der Scheidung. Spiritistische Sitzungen, Drohgebärden, Nötigungen, Ehebruch und Betrug sollen bei der Trennung mitgewirkt haben. Zwei Monate später heiratet er erneut.
Zur psychischen Belastung werden für ihn auch die Eindrücke der ersten und einzigen größeren Reisen, die ihn 1900 in den Orient und 1908 nach Amerika führen. Diese Reisen, die hauptsächlich einem legitimatorischen Zweck dienen und in durchaus touristischen Bahnen verlaufen, konfrontieren ihn unausweichlich mit der Traumwelt seiner Romane. May erleidet einen "totalen psychischen Zusammenbruch". Er verzichtet fortan auf die Gleichsetzung mit dem Romanhelden und tritt in die mystisch gestimmte Phase seines Spätwerks ein, gegenüber dem ihm alle früheren Bände nur als Einleitung und Vorbereitung erscheinen und das ihm nunmehr als seine "eigentliche Aufgabe" gilt. (8)
Die angeführten Belastungen zermürben May in den letzten Lebensjahren. "Seit einem Jahr ist mir der natürliche Schlaf versagt", klagt er am Ende seiner 1910 verfaßten Autobiographie. "Will ich einmal einige Stunden ruhen, so muß ich zu künstlichen Mitteln, zu Schlafpulvern greifen, die nur betäuben, nicht aber unschädlich wirken. Auch essen kann ich nicht. Täglich nur einige Bissen, zu denen meine arme, gute Frau mich zwingt. Dafür aber Schmerzen, unaufhörliche, fürchterliche Nervenschmerzen, die des Nachts mich emporzerren und am Tage mir die Feder hundertmal aus der Hand reißen! Mir ist, als müsse ich ohne Unterlaß brüllen, um Hilfe schreien. Ich kann nicht liegen, nicht sitzen, nicht gehen und nicht stehen, und doch muß ich das alles. Ich möchte am liebsten sterben, sterben, sterben . . .". (9)
Eine letzte Genugtuung widerfährt May, als er im März 1912 in Wien einen zweistündigen Vortrag "Empor ins Reich der Edelmenschen" hält. Unter dem Publikum, das ihn minutenlang mit Beifall überschüttet, befindet sich die Pazifistin Bertha von Suttner und, der Legende zufolge, auch Adolf Hitler. Eine Woche später, am 30. März 1912, erliegt er in seiner Dresdener "Villa Shatterhand" einem Herzschlag.
Im Finale des "Silberlöwen" porträtiert May seine Hauptfeinde im exotischen Gewand und läßt sie auf eine gräßliche Weise ins Jenseits befördern. Im übrigen versucht er jedoch in seinen letzten Jahren, vom immergleichen Schema seiner Abenteuerromane wegzukommen. "Den Sinn seiner Existenz findet May jetzt allein in der literarischen Hypertrophierung seines Lebens zum allgemeinen Bild menschlichen Leidens." (10) Ausdruck dieses durchaus zeitgemäßen, dem kleinbürgerlichen Reformkult verhafteten Mystizismus ist "Das Märchen von Sitara", das er seiner Autobiographie "Mein Leben und Streben" voranstellt. Sitara ist ein der Erde vergleichbarer Stern. Er zerfällt in Ardistan, das Tiefland der "Gewalt- und Egoismusmenschen", und Dschinnistan, das Hochland der "Edelmenschen". Dazwischen liegt der labyrinthische Urwald von Märdistan mit der "Geisterschmiede". Letztere ist nichts anderes als eine psychische Folterkammer für den edleren Teil der Seelen, der von Ardistan nach Dschinnistan zu flüchten versucht und dabei unfehlbar ergriffen wird. Nur ganz wenigen, starken Seelen sei es vergönnt, die Folter ungebrochen zu überstehen, so daß die Peiniger von ihnen ablassen müssen und sie nach Dschinnistan gelangen können. (11)
Dieses von May erdachte "persische Märchen" soll offenkundig die Mühen und Qualen symbolisieren, die sich der Selbstverwirklichung des Schriftstellers May und des Menschen schlechthin entgegenstellen. Der Dualismus von "Ardistan und Dschinnistan" hat psychologisch etwa dieselbe Qualität wie das "dionysische" und "apollinische" bei Nietzsche oder das "Es" und das "Ich" bei Freud. Es handelt sich um nichts anderes als um die irrationale Lebensphilosophie der Jahrhundertwende, die hier auf das Niveau von Karl May gelangt und immerhin den Vorzug aufweist, als erklärtes Märchen nicht jenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu erheben, wie ihn zur selben Zeit die Phantasmagorien der Psychoanalyse erheischen.
Es verwundert nicht, daß ein von der Psychoanalyse besessener Kritiker wie Arno Schmidt ("SITARA oder Der Weg dorthin") dieses Gleichnis des neurotischen Konflikts in grotesker Weise verkannt hat. Er glaubte, die Schilderung Sitaras mit Tiefland, Hochland, Sumpf, Urwald usw. als sexuelles Gleichnis für "eine Welt, aus Hintern erbaut!" erklären zu können. Auch andere Topoi des Mayschen Werkes deutete er in diesem Sinne. Zum Beispiel sei Kara Ben Nemsis orientalischer Freund und Begleiter Halef "ganz simpel MAY's eigener Penis". Der überwältigende Erfolg des Autors erkläre sich letztendlich aus der Verschlüsselung hetero- und homosexueller Impulse zu pornographischen Vexierbildern, wobei die homosexuelle Komponente überwiege. (12)
Hinter diesem blühenden Unsinn steckt gerade soviel Wahrheit, daß Mays Romane und die Phantasmagorien der Psychoanalyse aus demselben Zeitgeist hervorgegangen sind. Deshalb muß ein psychoanalytisch geschulter Kritiker, der Mays Romane auf ihren "eigentlichen" Inhalt abzuklopfen beginnt, fast unweigerlich seine eigenen Voraussetzungen bestätigt finden. Mays "Edelmensch" und der psychoanalytische Triebmensch sind nur zwei Seiten derselben ideologischen Medaille.
May beschreibt sich in seiner Autobiographie selbst als Neurotiker, der, stellvertretend für die anderen, den auferlegten psychischen Konflikt austragen muß, um die Mitwelt sodann über das Medium der drucktechnischen Vervielfältigung an der gefundenen Lösung teilhaben zu lassen: "Es war meine Aufgabe, alles Schwere zu tragen und alles Bittere durchzukosten, was es hier zu tragen und durchzukosten gibt; ich habe das mit in meiner Arbeit zu verwenden." Uber sein Leserpublikum schreibt er: "Sie sind Gefangene, ich aber will sie befreien. Und indem ich sie zu befreien trachte, befreie ich mich selbst . . .". Indem er geistig voranschreite auf dem Weg von Ardistan nach Dschinnistan, könne er "durch meine Erzählungen das Innere meiner Leser vom äußeren Druck befreien. Sie sollen Glocken klingen hören. Sie sollen empfinden und erleben, wie es einem Gefangenen zumute ist, vor dem die Schlösser klirren, weil der Tag gekommen ist, an dem man ihn entläßt." (13)
May entläßt seine Leser natürlich nicht in die Freiheit, wie er meint, sondern in jene eskapistische Illusion von Freiheit und Abenteuer, die seine Romane allen Unreifen, Mühseligen und Beladenen so lieb und teuer macht. Er bietet ein Identifikationsmuster an, das so vielfältig, kunstvoll und relativ zeitlos ist, daß es das erste Jahrhundert bereits überdauert hat. Zu Recht stellt Helmut Schmiedt fest: "Mays Bücher haben ihre psychotherapeutische Funktion, wie es scheint, nur teilweise verloren, und das kann nicht nur an der Flexibilität ihres Inhalts liegen: offenbar sind hier bestimmte gesellschaftliche Faktoren kontinuierlich wirksam." (14)