März 1997

970301

ENERGIE-CHRONIK


Castor-Transport erreichte Gorleben nach schweren Auseinandersetzungen

Gegen den teilweise erbitterten und gewalttätigen Widerstand von einigen tausend Demonstranten erreichte am 5.3. der Transport von sechs Castor-Behältern mit radioaktiven Abfällen (siehe 970201, 970202) das Zwischenlager Gorleben. Bundesweit wurden etwa 30 000 Polizisten zur Sicherung des Transports eingesetzt, davon allein 14 000 in Niedersachsen. Es gab annähernd 400 Verletzte, darunter 77 Polizisten. Ferner wurden 659 Straftaten angezeigt, die von schwerer Sachbeschädigung über versuchte Gefangenenbefreiung bis zum tätlichen Angriff auf Polizisten reichen und noch ein juristisches Nachspiel haben werden (Handelsblatt, 7.3.).

Erst nach 58 Stunden am Ziel

Von den sechs Castor-Behältern stammten zwei aus dem KKW Neckarwestheim, einer aus dem KKW Gundremmingen und zwei aus der französischen Wiederaufarbeitungsanlage LaHague. Sie waren in der Nähe von Neckarwestheim zusammengeführt worden. Von dort aus begann am 3.3. frühmorgens der gemeinsame Bahntransport nach Gorleben. Der Fahrtbeginn verzögerte sich durch etwa tausend Demonstranten zunächst nur unwesentlich. Auch eine Sitzblockade auf den Schienen bei Göttingen konnte von der Polizei schnell aufgelöst werden. Für die letzten 54 Kilometer zum Verladebahnhof Dannenberg benötigte der Zug dann jedoch mehr als sechs Stunden, weil sich kurz hinter Lüneburg Demostranten an die Gleise gekettet hatten. Nach dem Eintreffen in Dannenberg und der Umladung der Behälter auf sechs Tieflader verhinderten am Abend des 4.4. rund 5000 Kernkraftgegner - darunter prominente Grüne - mit einer Sitzblockade den Straßentransport nach Gorleben. Die Polizei begann am 5.5. ab ein Uhr nachts mit dem Wegtragen der Demonstranten. Da diese sich weiterhin weigerten, den Weg freizugeben, setzte sie achteinhalb Stunden nach der ersten Aufforderung zur Räumung auch Wasserwerfer und Schlagstöcke ein. Gegen zehn Uhr vormittags konnte der Tieflader-Konvoi nach Gorleben starten, wo er gegen 15 Uhr eintraf. Insgesamt dauerte der Transport der Behälter von Neckarwestheim nach Gorleben über 58 Stunden (FR, 6.3.; FAZ, 6.3.).

Presse sieht teils den Rechtsstaat durchgesetzt, teils den inneren Frieden in Gefahr gebracht

Der Castor-Transport war zeitweilig das Spitzenthema in allen Medien. Das Fernsehen brachte ausführliche Bildberichte über Aktionen der Demonstranten und ihre Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die politische Wertung der Vorgänge in den Kommentaren der führenden Zeitungen war gespalten: Während FAZ und Welt den Polizeieinsatz als konsequentes Durchgreifen im Interesse des Rechtsstaats begrüßten, gaben SZ und FR zu bedenken, daß sich ein Energiekonsens und der innere Frieden mit Polizeieinsätzen nicht erzwingen lassen.

Für die Frankfurter Allgemeine (5.3.) war wieder einmal "jener Zustand einer veitstanzähnlichen Enthemmung erreicht, für den sich der Begriff ëCastor-Transportë eingebürgert hat". In der Sache gehe es darum, nach Recht, Gesetz und bestehenden Verträgen atomaren Abfall an einen sicheren Ort zu bringen, und nicht etwa um eine energiepolitische Grundsatzentscheidung über die weitere Nutzung der Kernkraft. In Gorleben stehe "nicht die Energiepolitik, sondern der Rechtsstaat auf dem Prüfstand".

Die Welt (6.3.) unterstrich ebenfalls, daß in Gorleben "dem Staat zu seinem Recht verholfen" worden sei: "Daß dieses Großaufgebot überhaupt nötig ist, zeigt, welch unverhältnismäßiges Gewicht eine kleine Minderheit erringen kann - unabhängig davon, ob ihr Aufbegehren rechtens ist."

Die Süddeutsche Zeitung (6.3.) sieht das "Dilemma von Gorleben" dagegen folgendermaßen: "Innere Sicherheit gibt es auch in der Diktatur, inneren Frieden aber nur in der Demokratie. Mit notfalls drakonischen Mitteln kann ein Staat zwar innere Sicherheit herstellen; der innere Frieden aber läßt sich nicht erzwingen. Er ist kein Zitterfriede, sondern ein Überzeugungsfriede. Mit Polizei und Wasserwerfern aber kann der Staat nicht überzeugen."

Die Frankfurter Rundschau (5.3.) argumentierte ähnlich: "Die Folgen der politischen Kernspaltung wiegen schwer. Zu schwer. Wenn bürgerkriegsartige Zustände erzeugt werden müssen, um eine Entscheidung durchzusetzen, zerstört das zwar nicht die Legitimität des Vorhabens, aber seine Legitimation."