Januar 1992 |
920105 |
ENERGIE-CHRONIK |
Nach dem Tod eines neunjährigen Mädchens ist die Diskussion um die Häufung von Leukämie-Fällen in Tespe (Gemeinde Elbmarsch) bei Hamburg wieder aufgeflammt. Die Bremer Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake hat fünf Geschwister der leukämiekranken Kinder mit Hilfe der sogenannten biologischen Dosimetrie untersucht. Sie will dabei eine deutlich erhöhte Rate an deformierten Chromosomen festgestellt haben, die ihrer Ansicht nach auf eine Schädigung durch ionisierende Strahlung aus den benachbarten Reaktoren des Kernkraftwerks Krümmel und des GKSS-Forschungszentrums hinweisen. Im Fall der niedersächsischen Gemeinde Sittensen, wo ebenfalls überdurchschnittlich viele Kinder an Leukämie erkrankt sind, jedoch keine kerntechnische Anlage in der Nähe ist, glaubt sie die Ursache in einer Überdosis ionisierender Strahlung bei Röntgenuntersuchungen der betroffenen Kinder gefunden zu haben. Die Physikerin fand mit diesen Thesen ein breites Echo in der Öffentlichkeit, obwohl sie die Details ihrer Untersuchungen nicht offenlegte (dpa, 4.1. u. 14. 1.; Spiegel, 13.1.; siehe auch 910807 u. 911008).
In den Medien wurden - zum Teil in reißerischer Manier, wie in der Morgenpost (8.1.) - Mutmaßungen darüber angestellt, ob ein angeblich "heruntergespielter" Störfall im GKSS-Forschungszentrum am 17.10.1983 die Leukämie-Häufung in den gegenüberliegenden Orten verursacht habe. Einer anderen Theorie zufolge ist die vom KKW Krümmel mit behördlicher Genehmigung in die Elbe eingeleitete Menge des radioaktiven Stoffes Tritium durch eine Überschwemmung in den Nahrungspfad der Bewohner auf dem gegenüberliegenden Elbufer gelangt. Dies würde - so die Argumentation - zur Versicherung der KKW-Betreiber passen, daß nie mehr als die zulässige Menge an radioaktiven Stoffen abgegeben worden sei. "Womöglich ist gerade das der größte anzunehmende Unfall für die Atomgemeinde", hieß es dazu im Spiegel (13.1.).
Auf Anfrage der SPD-Fraktion im Landtag versprach der niedersächische Ministerpräsident Gerhard Schröder am 22.1. eine gründliche Untersuchung der Leukämie-Erkrankungen. Schröder sprach von einem "Anfangsverdacht" bezüglich des KKW Krümmel und der GKSS. Die CDU-Fraktion im Kieler Landtag hat bei der schleswig-holsteinischen Landesregierung einen Bericht über die Leukämiefälle an der Elbe beantragt (das KKW Krümmel und die GKSS befinden sich in Schleswig-Holstein, die gegenüberliegenden Orte sind niedersächsisches Gebiet). Die Hamburger Grünen forderten den Senat der Hansestadt auf, seinen Aktienanteil an den Hamburgischen Electricitäts-Werken (HEW) zu nutzen, damit das KKW Krümmel bis zur vollständigen Aufklärung der Erkrankungen umgehend stillgelegt werde (an der Kernkraft Krümmel GmbH sind HEW und PreussenElektra je zur Hälfte beteiligt). Hamburgs Erster Bürgermeister Henning Voscherau erklärte inzwischen die Bereitschaft des Senats, den Ausstieg aus der Kernenergie als allgemein formuliertes Ziel in die Satzung der HEW aufzunehmen (dpa, 8.1. u. 23.1.).
Die Leukämie-Häufungen dürften auch bei einer Tagung der Gesellschaft für Strahlenschutz erörtert werden, die vom 28. Februar bis 1. März in Kiel stattfindet. Die Hamburger Gesundheitsbehörde will in einer Leukämie-Studie feststellen lassen, ob es auch in Hamburg Stadtteile gibt, in denen Kinder und Jugendliche vermehrt an Blutkrebs sterben (Hamburger Abendblatt 9.1. u. 15.1.).
Mitglieder der Umweltorganisation Robin Wood und anderer Bürgerinitiativen haben am 22.1. das Haupttor des KKW Krümmel zugemauert, um ihre Forderung nach umgehender Stillegung der Anlage zu unterstreichen. Außerdem kritisierten sie angebliche Sicherheitsmängel des KKW und behaupteten, die Betreiber verhinderten eine Aufklärung der Leukämie-Erkrankungen.
Die HEW wiesen die Vorwürfe von Robin Wood als "böswillige Unterstellung" und grobe Irreführung der Öffentlichkeit zurück. Die Betreibergesellschaft habe bisher der von der niedersächsischen Landesregierung eingesetzten Kommission zur Untersuchung der Leukämiefälle ausnahmslos alle erbetenen Daten und Unterlagen zur Verfügung gestellt. Der Leitende HEW-Betriebsarzt Eberhard Maintz äußerte sich am 29.1. auf der Tagung des Deutschen Atomforums zuversichtlich, "daß ionisierende Strahlung als Ursache im Fall Tespe ausgeschlossen werden wird".
PreussenElektra verwahrte sich gegen eine Äußerung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder, der im Zusammenhang der Leukämie-Debatte das KKW Würgassen als "das schmutzigste aller deutschen Atomkraftwerke" bezeichnet hatte. Behauptungen über eine angeblich erhöhte Zahl von Leukämie-Erkrankungen in diesem Gebiet entbehrten jeder Grundlage (dpa, 22.1.; u. 23.1.; SZ, 30.1.).
Prof. Dr. Horst Jung, Direktor des Instituts für Biophysik und Strahlenbiologie an der Hamburger Universitätsklinik, warnte vor der Annahme, daß die Rätsel um die Leukämie-Häufungen durch die Untersuchungen der Physikerin Schmitz-Feuerhake gelöst seien. Ihre Röntgenstrahlen-Theorie sei sogar "schlicht absurd", zumal das Röntgengerät, von dem die Kinder in Sittensen ihre Überdosis abbekommen haben sollen, gar nicht in Sittensen, sondern in Rothenburg an der Wümme gestanden habe. In dieser Praxis seien auch Kinder aus anderen Dörfern behandelt worden, in denen es zu keinerlei Häufung von Leukämie-Fällen kam (Welt, 24.1.; Tageszeitung, 25.1.).
In einem "Offenen Brief an die Bürger von Tespe", den das Hamburger Abendblatt (31.1.) veröffentlichte, bezeichnete Jung das Auftreten solcher Leukämie-Häufungen wie in der Gemeinde Elbmarsch als etwas - wissenschaftlich gesehen - "ganz normales". Wörtlich führte er aus: "Es ist seit Ende des letzten Jahrhunderts bekannt, daß Leukämie in seltsamen Häufungen auftritt, und zwar insbesondere in ländlichen Gemeinden. Amerikanische Farmer haben ein deutlich höheres Leukämie-Risiko als der Durchschnitt der Bevölkerung; Geflügelzüchter sind noch mehr gefährdet. Bundeswehrsoldaten, die aus Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnern stammten, hatten ein 3,6fach höheres Leuämierisiko als die übrigen Wehrpflichtigen. All dies ist schon hundertmal beschrieben worden. In Ihrer Gemeinde ist die Leukämiehäufigkeit etwa zehnmal höher als im Bundesdurchschnitt. In der älteren Literatur habe ich Werte von 72fach (1956) oder gar 80fach (1959) gefunden, und zwar in Kleinstädten im amerikanischen Mittelwesten. Es kam vor, daß vier Fälle von Leukämie in einem einzigen Haus auftraten. Also: Tespe ist (entschuldigen Sie bitte, es geht hier um Statistik) nichts Außergewöhnliches und von der ëweltweit größten Häufungí, wie ein ARD-Magazin und ëDer Spiegelí vermuten, weit entfernt."
Mit Blick auf die Thesen der Physikerin Schmitz-Feuerhake sprach Jung sogar von "wissenschaftlicher Falschmünzerei" und gab seinem Erstaunen Ausdruck, "mit welchem Eifer diese ëBlütení in Umlauf gebracht werden. Von den Medien bis hinauf zur Landesregierung". Er könne den Bewohnern von Tespe "mit Sicherheit sagen, daß die beiden Leukämie-Häufungen in Tespe und Sittensen nicht auf eine Bestrahlung zurückzuführen sind".
Das "British Medical Journal" veröffentlichte am 24.1. eine Studie des britischen Amtes für Strahlenschutz. Nach den Worten von Amtsleiter Roger Clarke geht daraus hervor, daß das Leukämie-Risiko für Beschäftigte in Nuklearanlagen doppelt so hoch ist wie bisher angenommen. Die Studie basiert auf den Daten von 95.000 Personen, die seit 1945 in den zivilen und militärischen Nuklearanlagen Großbritanniens beschäftigt waren. Davon waren inzwischen 6.600 verstorben. Darunter waren wiederum insgesamt 53 Leukämie-Todesfälle, von denen nach Einschätzung des Amtes 10 wahrscheinlich auf erhöhte radioaktive Strahlendosen zurückzuführen sind. Eine sofortige Senkung der Grenzwerte hielt Clarke nicht für erforderlich. Von seiten der britischen Nuklearindustrie wurde erklärt, daß solche Strahlendosen, wie sie in der Studie untersucht wurden, schon lange nicht mehr üblich seien (dpa, 24.1.; FR, 25.1.).
Führende Kommunalpolitiker wollen die Genehmigung
eines weiteren Forschungsreaktors auf dem Gelände der Technischen
Universität in Garching von einer "Umweltverträglichkeitsprüfung"
abhängig machen. Sie beziehen sich dabei auf Berichte über die
Leukämie-Angst um das KKW Krümmel, wo Häuser und Grundstücke
teilweise unverkäuflich geworden seien (SZ, 29.1.).