Oktober 1991 |
911011 |
ENERGIE-CHRONIK |
Im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl ist es am 11.10. zu einem Großbrand in der Turbinenhalle des Blocks 2 gekommen. Das Unglück ereignete sich bei Wartungsarbeiten, als eine stillgelegte Turbine mit dem dazugehörigen Generator wegen eines defekten Schalters überraschend wieder anlief. Durch den Stromstoß gerieten Kabel in Brand, was wiederum die Beschädigung von Leitungen mit Wasserstoff zur Kühlung des Generators und eine Knallgasexplosion mit anschließendem Großfeuer bewirkte. Die Turbinenhalle wurde zerstört. Radioaktivität wurde nicht freigesetzt (FAZ, 14.10.; FR, 14.10., Der Spiegel, 21.10.).
Das erneute Unglück in Tschernobyl hat in den Medien starke Beachtung gefunden und angstvolle Erinnerungen an die Katastrophe vom 26. April 1986 geweckt, als der Reaktor des Blocks 4 explodierte.
"Die Berichte über den jüngsten Unfall bestätigen die schlimmsten Befürchtungen", schrieb die Frankfurter Allgemeine (14.10.) unmittelbar nach Bekanntwerden der Nachricht. "Die Konsequenzen aus diesem neuerlichen Unfall sind offenkundig. Alle Blöcke von Tschernobyl müssen stillgelegt werden, bevor weiteres Unheil über Europa hereinbricht."
Die Welt (14.10.) kommentierte: "Solange in Osteuropa Atomanlagen in Betrieb sind, die hierzulande aus Sicherheitsgründen unverzüglich stillgelegt würden, kann niemand ein 'Tschernobyl II' ausschließen. Es liegt im Interesse Europas, die zweifelhaften Reaktoren im Osten entweder stillzulegen oder aber auf ein akzeptables Sicherheitsniveau zu bringen. Beides wird nicht ohne westliche Hilfe möglich sein."
Die Zeit (17.10.) forderte ebenfalls die schnellstmögliche Stillegung der unsicheren Ost-Reaktoren mit Hilfe der westeuropäischen Länder: "Westeuropa kann, ja muß dabei helfen: durch die Lieferung von Meß- und Steuergeräten, durch die Entsendung von Fachleuten, um die 'Auslaufzeit' etwas sicherer zu machen. Gleichzeitig sollte die westliche Hilfe den Bau neuer Kraftwerke finanzieren. Der rasche Aufbau eines elektrischen Verbundnetzes zur Stromlieferung würde allen nutzen."
Die Süddeutsche Zeitung (16.10.) gab die erforderlichen Kosten einer solchen "Sicherheitspartnerschaft" zu bedenken: "Die Bundesrepublik ist an der Grenze der finanziellen Belastbarkeit angekommen und scheidet als Finanzier aus, obwohl sie wegen der sowjetischen Reaktoren in den neuen Ländern wie kein anderer Staat Westeuropas an einer Zusammenarbeit mit Moskau interessiert sein muß. Gefordert ist die EG, für die das Risiko einer nuklearen Katastrophe in Europa eigentlich Anreiz genug sein sollte, Geld für ein Programm in Aussicht zu stellen. Es müßte den Schwerpunkt nicht nur auf die Sanierung und Stillegung von Kernkraftwerken legen, sondern auch die Umstrukturierung und Modernisierung der gesamten Energiewirtschaft einbeziehen."
Das erneute Unglück in Tschernobyl war auch Thema einer Aktuellen Stunde im Bundestag am 16.10., in der alle Parteien ihre Besorgnis über die Risiken der Kernkraftwerke sowjetischer Bauart äußerten. Am 17.10. reiste Bundesumweltminister Töpfer (CDU) zur Besichtigung des Unglücksortes und zu Gesprächen mit Verantwortlichen der Atomaufsicht in die Sowjetunion. Die ihn begleitenden Journalisten hatten ebenfalls Gelegenheit, sich in Tschernobyl ein Bild zu machen. In ihren Berichten verwiesen sie u.a. darauf, daß der "Sarkophag" aus Beton, der den 1986 explodierten Reaktor abschirmen soll, Risse aufweist und deshalb durch eine neue Betonummantelung ersetzt werden muß (FAZ, 21.10.; Welt, 21.10.; SZ, 21.10.; FR, 21.10.).
Nach seiner Rückkehr stellte Töpfer fest, daß die Kernkraftwerke sowjetischer Bauart ein noch größeres Risiko aufwiesen als bisher befürchtet worden sei. Die 16 Reaktoren mit dem höchsten Risiko, wie sie in Tschernobyl, Sankt Petersburg, Smolensk und in Ignalia in Litauen stehen, könnten technisch nicht verbessert und nachgerüstet werden. Sie müßten vielmehr so schnell wie möglich abgeschaltet werden.
Noch kritischer gestaltet sich die aktuelle Lage nach Töpfers Worten durch den Verfall der Sowjetunion. Die zentralen Strukturen der sowjetischen Atomaufsicht seien zusammengebrochen. So habe er am 18.10. im Moskauer zentralen Atomministerium einen Termin gehabt, "aber es war einfach niemand mehr da". Der Energieverbund zwischen den Republiken sei in Auflösung begriffen. Die dadurch erheblich angespannte Energieversorgung könne wiederum Auswirkungen auf die Sicherheit der Kernkraftwerke haben (FR, 21.10.; FAZ, 22.10.).