Oktober 2023 |
231005 |
ENERGIE-CHRONIK |
Das Bundeskabinett beschloss am 4. Oktober, die vor einem Jahr in Kraft getretene "Versorgungsreserveabrufverordnung" (221004) bis zum 31. März 2024 zu verlängern. Damit dürfen die Braunkohlekraftwerke Jänschwalde E und F im Lausitzer Revier (LEAG) sowie die Kraftwerksblöcke Niederaußem E und F und Neurath C im Rheinischen Revier (RWE) seit 11. Oktober wieder an den Markt zurückkehren. Wegen Auslaufens der Genehmigung war ihnen das seit 1. Juli nicht mehr möglich. Mit der "Verordnung zur Änderung der Versorgungsreserveabrufverordnung" wird ihnen nun die kommerzielle Stromerzeugung für sechs weitere Monate gestattet. Zusammen verfügen sie über eine Leistung von 1.816 MW. Durch diese Maßnahme soll die Stromerzeugung mittels Gas verringert und die Deckung des erhöhten Strombedarfs während der Wintermonate sichergestellt werden.
Die fünf Braunkohlekraftwerke wurden gemäß § 13g des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) vor fünf bzw. vier Jahren stillgelegt und in die obligatorische vierjährige "Sicherheitsbereitschaft" überführt. Diese Konstruktion, die anfangs mitunter auch als "Kapazitätsreserve" bezeichnet wurde, diente eigentlich nur dazu, den Betreibern vier Jahre lang eine Abwrackprämie zukommen zu lassen, die über die Netzentgelte abgerechnet werden kann. Ein regierungsamtliches Papier vom März 2015 hat dies indirekt und in unfreiwillig karikierender Weise eingestanden, indem es den bildhaften Vergleich mit einem "Hosenträger" bemühte, der den bereits vorhandenen "Gürtel" in Gestalt der im Juni 2013 verabschiedeten Reservekraftwerksverordnung ergänze (150301). Es war aber nicht ernsthaft daran gedacht, die ins künstliche Koma einer vierjährigen "Sicherheitsbereitschaft" versetzten Braunkohleblöcke vor ihrem endgültigen Ableben wieder betriebsbereit zu machen. Es gab auch keinerlei Anzeichen dafür, dass eine derartige Reaktivierung erforderlich oder sinnvoll sein könnte (siehe Hintergrund, Februar 2018 und Hintergrund, Juli 2015).
So durften die Betreiber von insgesamt acht im Gesetz aufgeführten Braunkohlekraftwerken nach Stilllegung der Blöcke jeweils vier Jahre lang eine beachtliche Abwrackprämie kassieren, und zwar "in Höhe der Erlöse, die sie mit der stillzulegenden Anlage in den Strommärkten während der Sicherheitsbereitschaft erzielt hätten, abzüglich der kurzfristig variablen Erzeugungskosten". Bedingung war lediglich, dass die Anlagen bei einer Anforderung durch den jeweiligen Übertragungsnetzbetreiber binnen zehn Tagen betriebsbereit sind und binnen eines weiteren Tages bis zur vollen Leistung hochgefahren werden können. Eine solche Anforderung durch die Übertragungsnetzbetreiber war allerdings rein hypothetisch und in der netztechnischen Praxis nicht zu erwarten.
Erst durch den russischen Überfall auf die Ukraine bekam die verkappte Abwrackprämie dann doch ein bißchen den Anschein einer sachlich begründeten Vorsorgemaßnahme. Allerdings nur bei oberflächlicher Betrachtung. In der bisherigen Form taugte die "Sicherheitsbereitschaft" nicht dazu, dieser gänzlich unerwarteten Herausforderung zu begegnen. Der einschlägige § 13g wurde deshalb ab 1. Oktober 2022 durch den neu ins EnWG eingefügten § 50d ergänzt, der jene fünf Braunkohleblöcke, die sich noch in bzw. am Ende der "Sicherheitsbereitschaft" befanden, bis zum 31. März 2024 in eine neugeschaffene "Versorgungsreserve" überführte. Das bedeutet, dass sie erst nach diesem Datum stillgelegt werden dürfen, obwohl es die vierjährige Sicherheitsbereitschaft erheblich überschreitet. Außerdem kann die befristete Rückkehr an den Strommarkt erlaubt werden, sofern "die Rückkehr der Anlagen, die aufgrund von § 50a befristet am Strommarkt teilnehmen, nicht ausreicht, um die Versorgung mit Gas gewährleisten zu können". Damit ist die Steinkohle-Netzreserve gemeint, von der im folgenden Abschnitt noch die Rede sein wird. Von dieser Möglichkeit der kommerziellenStromerzeugung haben Bundesregierung und Betreiber dann auch Gebrauch gemacht. Allerdings war die entsprechende Rechtsverordnung nur bis zum 30. Juni 2023 befristet, weshalb nun die Verlängerung bis zum Ende der gesetzlichen Geltungsdauer der "Versorgungsreserve" erfolgte.
Von der "Versorgungsreserveabrufverordnung" zu unterscheiden ist die "Stromangebotsausweitungsverordnung", die am 14. Juli 2022 in Kraft trat (220706). Diese betrifft mit Steinkohle oder Öl befeuerte Kraftwerke, die wegen ihrer "Systemrelevanz" nicht stillgelegt werden dürfen und deshalb als "Netzreserve" vorgehalten werden müssen. Aufgrund der Verordnung bekamen die Betreiber solcher Anlagen die Möglichkeit, ihre Kraftwerke vorübergehend wieder zur kommerziellen Stromerzeugung einzusetzen, anstatt sich mit den Vergütungen für die weitere Betriebsbereitschaft bzw. für netztechnisch notwendige Einsätze zu begnügen. Die Verordnung erlaubte die Rückkehr an den Strommarkt zunächst nur bis 30. April 2023. Diese Frist wurde dann aber bis 31. März 2024 verlängert (221004). Wie bei der "Versorgungsreserveabrufverordnung" steht die Geltungsdauer auch hier unter dem Vorbehalt, das die am 23. Juni 2022 ausgerufene und bis heute gültige "Alarmstufe" (220603) nicht früher aufgehoben wird.
Beide Verordnungen stützen sich auf Paragraphen, die dem Energiewirtschaftsgesetz durch das "Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz" eingefügt wurden, das der Bundestag am 7. Juli 2022 beschloss (220705). Bei der "Stromangebotsausweitungsverordnung" sind das die §§ 50a – 50c im EnWG. Bei voller Inanspruchnahme hätten sie die Reaktivierung von insgesamt 27 Kraftwerken mit einer Kapazität von rund 8 Gigawatt erlaubt (220706). Zusammen mit den fünf Braunkohleblöcken der "Versorgungsreserveabrufverordnung" hätte das maximal fast 10 Gigawatt ergeben. Tatsächlich reaktiviert wurden aber nur 15 Steinkohleblöcke und ein Ölkraftwerk mit insgesamt 6,4 MW, wie aus einer vom 26. Mai 2023 datierten Übersicht der Bundesnetzagentur hervorgeht.
Zumindest bis Ende 2022 dürfte diese erlaubte Rückkehr an den Strommarkt für die vorerst 14 beteiligten Kraftwerke weit einträglicher gewesen sein als die zwar stabilen, aber doch weit geringeren Vergütungen aus dem Netzreservevertrag. Zudem blieb die Steinkohle-Verstromung von der Übergewinn-Abschöpfung ausgenommen, die ab 1. Dezember 2022 in Kraft trat (221201). Das erklärt auch, weshalb die drei Energiekonzerne RWE, EnBW und MVV ihre anfängliche Zurückhaltung bereuten und mit dem Block 7 des ihnen gehörenden Großkraftwerks Mannheim (GKM) ab Januar 2023 ebenfalls noch abzusahnen versuchten (221201). Für den Nachzügler GKM lohnte sich die Beteiligung dann aber doch nicht sonderlich, da just mit Jahresbeginn die exorbitant hohen Großhandelspreise wieder zu sinken begannen, die Stromnachfrage zurückging und die einst fetten Erlöse aus dem Stromexport zunehmend dünner wurden. Schon Mitte April 2023 beschlossen die GKM-Eigentümer deshalb, den Block 7 ab 4. Juni wieder vom Markt zu nehmen. Auf diese Weise vermieden sie es, sich bei tendenziell sinkenden Preisen selber Konkurrenz zu machen. Außerdem garantierte der Netzreservevertrag mit dem Übertragungsnetzbetreiber TransnetBW mindestens bis Ende März 2025 verlässliche Einkünfte, die auch nicht zu verachten waren (siehe Hintergrund, Juli 2023).
Beide Verordnungen seien "für sich und gemeinsam geeignet, im kommenden Winter je nach Versorgungslage effektiv Erdgasverstromung zu ersetzen und den Bedarf an Erdgas insgesamt zu verringern", schreibt die Bundesregierung in einem vom 5. Oktober datierten Evaluierungsbericht zum Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz, den sie gemäß § 50j des Energiewirtschaftsgesetzes dem Bundestag übermittelte (eigentlich hätte sie ihn schon bis 12. Juli vorlegen müssen). Ferner heisst es: "Angesichts weiterhin bestehender Unsicherheit bezüglich möglicher Knappheit an Erdgas haben sich beide Instrumente als vorübergehende Kriseninstrumente zur Unterstützung der Sicherung der Gasversorgung und damit zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben in Deutschland bewährt." An eine nochmalige Verlängerung im nächsten Jahr ist aber nach den bisherigen Verlautbarungen aus dem Bundeswirtschaftsministerium nicht gedacht.
zum Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz
zur Sicherheitsbereitschaft nach § 13g EnWG