Juli 2015 |
150708 |
ENERGIE-CHRONIK |
Rußland will Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (ECHR) nur noch dann anerkennen und befolgen, wenn es mit ihnen einverstanden ist. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung des in St. Petersburg ansässigen Verfassungsgerichts, die am 14. Juli bekanntgegeben wurde. Herbeigeführt wurde sie durch den Antrag von 90 Duma-Abgeordneten. Aktueller Anlaß war das Straßburger Urteil vom Juni 2014, wonach Rußland eine Entschädigung von 1,9 Milliarden Euro Entschädigung leisten muß, weil die von Kremlchef Putin angeordnete Zerschlagung des Ölkonzerns Yukos von Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention begleitet wurde (140801). Über das Yukos-Urteil selber hat das Verfassungsgericht aber noch nicht entschieden.
Das Petersburger Gericht begründete seine Grundsatzentscheidung mit dem Vorrang der russischen Verfassung gegenüber der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte. Zugleich verwies es auf ähnliche Vorbehalte, die in der Rechtsprechung Deutschlands, Großbritanniens und Italiens bestünden. In der Tat gibt es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Grundgesetz Vorrang vor Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs genießt. Im Unterschied zur Bundesrepublik ist Rußland freilich kein Rechtsstaat. Die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative ist hier mehr oder weniger eine Fassade. Die Justiz gilt als staatlich gelenkt und korrupt. Mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts erteilt sich deshalb der Kreml im Grunde selber einen Freibrief zur beliebigen Mißachtung aller Verurteilungen durch den Straßburger Gerichtshof.
Die russische Auslandspropaganda hatte schon unmittelbar nach dem Straßburger Urteil mit dem Austritt des Landes aus dem Europarat gedroht. Die jetzige Entscheidung des Verfassungsgerichts liegt auf derselben Linie. Die Mitgliedschaft im Europarat wird damit zwar nicht formal, aber faktisch gekündigt. Offenbar spekuliert der Kreml darauf, daß sich für seinen Hinauswurf aus dem Gremium nicht so schnell eine Mehrheit findet. Bisher ahndete die parlamentarische Versammlung des Europarats die russischen Verletzungen der Menschenrechtskonvention nur mit dem zeitweiligen Entzug des Stimmrechts: Im April 2014 wurde es den 18 russischen Abgeordneten wegen der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim für den Rest des Jahres entzogen. Dasselbe geschah im April 2000 wegen des Tschetschenien-Kriegs.
Das Urteil des Straßburger Gerichtshofs betrifft lediglich Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention bei der Zerschlagung des Yukos-Konzerns. Davon zu unterscheiden ist das fast gleichzeitig ergangene Urteil des Internationalen Schiedsgerichts in Den Haag, das den ehemaligen Yukos-Aktionären einen Schadenersatz in Höhe von 50 Milliarden Dollar zusprach. Als Rechtsgrundlage diente dabei – mit anfänglicher Zustimmung Rußlands – die Europäische Energiecharta (140701). Dieses Urteil will der Kreml ebenfalls nicht anerkennen. Neben der sehr hohen Entschädigungssumme dürfte ihn hier vor allem stören, daß – im Unterschied zum Straßburger Urteil – auch eine politische Motivation hinter dem Vorgehen der russischen Behörden festgestellt wird. Derzeit versuchen die ehemaligen Yukos-Aktionäre, wenigstens einen Teil der zugesprochenen Entschädigung einzutreiben, in dem sie in westlichen Staaten Vermögenswerte beschlagnahmen lassen, die dem russischen Staat gehören und keinen diplomatischen Schutz genießen (150513).