September 2005 |
050901 |
ENERGIE-CHRONIK |
Durch den Emissionshandel erziele die deutsche Stromwirtschaft jährlich rund fünf Milliarden Euro ungerechtfertigte Mehrerlöse. Bezahlen müssten dieses Geschenk die deutschen Stromkunden. Diesen Vorwurf erhob der Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) am 21. September. Er stützte sich dabei auf öffentlich zugängliche Angaben der RWE AG, die er unter Berücksichtigung der spezifischen CO2-Emissionsfaktoren des Kraftwerksmixes auf die gesamte Strombranche hochrechnete.
Mindestens 93 Prozent der zur Stromerzeugung notwendigen CO2-Zertifikate seien den Stromunternehmen kostenlos zugeteilt worden. Bei einer eher konstant bleibenden Stromproduktion würden somit den Stromunternehmen allenfalls sieben Prozent der notwendigen CO2-Zertifikate fehlen. Dennoch verlangten sie von den Kunden Strompreise, als ob sie 100 Prozent der CO2-Zertifikate kaufen müßten.
Möglich werde dies durch die "unzureichend formulierte Gesetzesgrundlage
für den Emissionshandel". Der Gesetzgeber habe sich bei der kostenlosen
Zuteilung von CO2-Zertifikaten zwar von der politischen Absicht leiten lassen, die
Verminderung der CO2-Emissionen ohne einen dramatischen Strompreisanstieg zu realisieren.
Er habe es aber versäumt, diese "politische Geschäftsgrundlage"
in eine bindende Regelung umzusetzen, die es den Unternehmen verwehrt, mehr als die
notwendigen Zukäufe an Emissionszertifikaten auf den Strompreis aufzuschlagen.
Auf den Strompreis für Industrie und Gewerbe habe dies dramatische Auswirkungen.
Im Verlauf des Jahres 2005 sei der Strompreis für Unternehmen von etwa 33 Euro
pro MWh auf über 43 Euro pro MWh gestiegen. Die "Windfall Profits"
lägen im Mittel bei fast 10 Euro pro Megawattstunde.
Der Anstieg der Strompreise entziehe Investitionen in energieintensive Grundstoffindustrien den Boden und bedrohe Millionen von Arbeitsplätzen in Schlüsselindustrien. Solche hausgemachten Preisexplosionen halte keine Volkswirtschaft aus. Hier müsse eine neue Bundesregierung sofort handeln, um dem "standort- und umweltschädlichen Verhalten der Strombranche unverzüglich ein Ende zu setzen". Die gesetzlichen Rahmenbedingungen des Emissionshandels seien unverzüglich so zu verändern, dass eine Einpreisung der kostenlos zugeteilten CO2-Zertifikate nicht länger möglich sei.
In einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine" (20.9.) verteidigte der Wirtschaftswissenschaftler Carl Christian von Weizsäcker das Preisgebaren der Stromunternehmen. Die jüngsten Strompreissteigerungen seien zwar ärgerlich, aber "die natürliche Antwort wettbewerblicher Märkte auf die vom Staat gesetzten Rahmenbedingungen". Wer dies ändern wolle, dürfe nicht gegen die Stromproduzenten vorgehen, sondern müsse die gesetzlichen Rahmenbedingungen ändern.
Daß die Stromunternehmen nicht nur die Kosten der zusätzlich notwendigen Zertifikate auf den Strompreis aufschlagen, rechtfertigte Weizsäcker unter Berufung auf ein theoretisches Konstrukt der Volkswirtschaftslehre, wonach der Wert aller Einheiten eines Gutes durch den Nutzen der letzten Einheit bestimmt wird: Im Sinne dieser sogenannten Grenznutzenschule entspreche der Strompreis an der Leipziger Börse "den variablen Kosten desjenigen Kraftwerks, das gerade noch benötigt wird, um die Stromnachfrage zu decken".
Der emeritierte Wirtschaftswissenschaftler war bis vor einem Jahr Leiter des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln (EWI). Das Institut gilt als branchenfreundlich. Es wird von der Universität und einem speziellen Förderverein getragen, dem maßgebliche Unternehmen der Energiewirtschaft angehören. Unter anderem ist Weizsäcker noch Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium und im Wirtschaftsbeirat des RWE-Konzerns. Im März vorigen Jahres entstand unter seiner Federführung ein Gutachten, in dem der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium die Abschaffung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes verlangte, weil es infolge des Handels mit Emissionszertifikaten überflüssig und kontraproduktiv geworden sei (040304).