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Ende Februar 2007 eröffnete die Frankfurter Börse nach fünfmonatigem Umbau wieder ihren großen Handelssaal. Der Saal wurde den veränderten Arbeitsbedingungen angepaßt und erhielt ein moderneres Aussehen. Der Parketthandel spielt aber nur noch eine marginale Rolle. Mehr als neunzig Prozent des Börsengeschäfts werden elektronisch abgewickelt.
Börsen gibt es seit dem ausgehenden Mittelalter. Sie dienen als Handelsplätze für solche Güter, die ohne Rücksicht auf die qualitative Beschaffenheit einer jeweiligen Einheit gekauft und verkauft werden können. Die Güter werden sozusagen blindlings gehandelt, ohne daß sie materiell präsent sind oder auch nur in Augenschein genommen werden müssen. Solche Güter können etwa Aktien und Zinspapiere sein. Dann spricht man von einer Effekten- oder Wertpapierbörse. Es können aber auch bestimmte Waren wie Getreide, Rohöl, Kaffee oder Schweinehälften sein, sofern sie in standardisierter Form angeboten werden. In diesem Falle spricht man von einer Waren- oder Produktenbörse.
Die Börse beschränkt sich nicht auf die Rolle des Vermittlers zwischen Käufer und Verkäufer. Sie übernimmt auch für die jeweils andere Seite die Rolle des Vertragspartners. Die Beteiligten eines Börsengeschäfts kennen sich also nicht. Nur die Börse weiß, wer verkauft und gekauft hat.
Die Ware Strom ist ebenfalls von einheitlicher Qualität. Natürlich muß sie, wenn sie ins Netz eingespeist wird, den technischen Vorgaben hinsichtlich Frequenz und Spannung genügen. Im übrigen ist es aber vollkommen egal, auf welche Weise eine Kilowattstunde erzeugt wird. Das physikalische Produkt ist immer dasselbe, unabhängig davon, ob es mittels Kernenergie, Kohle, Wasserkraft, Wind oder Solarzellen erzeugt wird. Keine andere Ware ist von Natur aus so gleichförmig wie eine Kilowattstunde Strom. Insofern wäre Strom eigentlich schon immer das ideale Medium für eine Warenbörse gewesen.
Dennoch hätte es noch bis vor wenigen Jahren als Schnapsidee gegolten, Strom an der Börse handeln zu wollen. Dafür fehlten sowohl bei den Stromversorgern als auch seitens der Börse die technischen – vor allem die kommunikationstechnischen – Voraussetzungen. Die heutigen Strombörsen sind durchweg vollelektronische Handelsplätze. Sie bedienen sich dabei des Internets, das erst Anfang der neunziger Jahre seine Eierschalen abzustreifen begann. Schon deshalb hätte es sie vorher nicht geben können.
Außerdem unterscheidet sich Strom von anderen Waren durch seine Flüchtigkeit: Er kann nicht so gehandelt werden wie Wertpapiere oder Naturalien, die man nach dem Erwerb im Tresor oder Silo beläßt. Es ist beispielsweise nicht möglich, einfach nur hundert Megawattstunden Strom zu kaufen, so wie man hundert Aktien eines Unternehmens oder hundert Sack Getreide kaufen würde. Es muß vielmehr genau bestimmt sein, zu welchem Zeitpunkt und mit welcher Leistung das vereinbarte Quantum an elektrischer Energie übertragen wird. Wenn der Käufer beispielsweise die Leistung von hundert Megawatt im Zeitraum von zwölf Uhr mittags bis abends zehn Uhr benötigt, nützt es ihm nichts, wenn der Verkäufer hundert Megawatt von sechs bis sieben Uhr anbietet, obwohl in beiden Fällen dieselbe physikalische Arbeit von hundert Megawattstunden geliefert wird.
Im alten System der Stromversorgung wäre der kurzfristige Handel mit solchen Lieferungen weder möglich gewesen noch gab es einen Bedarf dafür. Die Stromversorger deckten den Bedarf ihres jeweiligen Versorgungsgebiets mit eigenen Kraftwerkskapazitäten oder durch langfristig angelegte Verträgen mit einem Vorlieferanten. Als Vorlieferanten fungierten in der Regel die sogenannen Verbundunternehmen, die vier Fünftel der Stromproduktion erzeugten und in ihren jeweiligen Arbeitsbereichen auch für den letztendlichen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage sorgten.
Schon früher gab es die Möglichkeit des Stromaustauschs zwischen den Verbundunternehmen. Solche Stromlieferungen erfolgten jedoch eher unter technischen als unter kaufmännischen Gesichtspunkten. Normalerweise wurden sie einfach mit Gegenlieferungen abgegolten. Ferner kam es schon mal vor, daß ein industrieller Großverbraucher im Gebiet des Unternehmens A per "Durchleitung" aus dem Gebiet des Unternehmens B beliefert wurde. Aber auch das war ein Ausnahmefall, der eine umständliche Prozedur voraussetzte. Von einem Stromhandel konnte praktisch kaum die Rede sein. Und schon gar nicht von einer Strombörse.
Die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung von Strombörsen war deshalb der wirtschaftsideologische Paradigmawechsel, der seit den achtziger Jahren eine "Deregulierung" der Stromwirtschaft verlangte. Der Grundgedanke dabei war, die bisher geschützten Versorgungsgebiete der Stromversorger aufzulösen und den Betrieb der Netze, der bis dahin eng mit der Erzeugung und dem Vertrieb von Strom verbunden war, zu einer separaten Dienstleistung zu machen. Auf diese Weise hoffte man, zumindest in den Bereichen Erzeugung und Vertrieb für mehr Wettbewerb sorgen zu können und nur noch das "natürliche Monopol" des Netzbetriebs staatlich beaufsichtigen zu müssen. Strom sollte grundsätzlich zu einer frei handelbaren Ware werden. Wie dieser Handel im einzelnen vor sich gehen sollte, war dabei noch unklar. Von Strombörsen war vorläufig keine Rede.
Zusätzlich bedurfte es enormer Umwälzungen an den Börsen. Früher hatten sich diese nur oder zumindest überwiegend dem Kassageschäft gewidmet, bei dem Wertpapiere oder Ware real den Eigentümer wechselten. Die Börsenteilnehmer waren außerdem persönlich zugegen und gaben auf dem "Parkett" ihre Gebote ab. Das ging mit viel Hektik und Geschrei vor sich, so daß die Zuschauer auf der Galerie leicht den Eindruck gewinnen konnten, einem Stück aus dem Tollhaus beizuwohnen. Im übrigen waren die Börsen aber recht honorige Veranstaltungen, die nichts weiter sein wollten als eine Handelsplattform und keine eigenen Gewinnabsichten verfolgten.
Das änderte sich nun im Zuge des bereits erwähnten wirtschaftsideologischen Paradigmawechsels und damit einhergehender kommunikationstechnischer Fortschritte. Auch die Rolle der Börsen wandelte sich. Früher waren sie Institutionen, die selber keine Gewinnabsicht verfolgten, obwohl sie die Plattform für Millionengeschäfte boten. Nun wurden sie selber zu gewinnorientierten Unternehmen. Die eígentliche Börse blieb zwar eine öffentlich-rechtliche Veranstaltung. Der wirtschaftliche Träger dieser Veranstaltung schlüpfte aber in die Rechtsform einer Aktiengesellschaft oder GmbH und organisierte das Börsengeschehen zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Gewinnerzielung. Wie bei ganz normalen Wirtschaftsunternehmen wurden dadurch auch Fusionen oder sogar die feindliche Übernahme anderer Börsen möglich.
Zum Beispiel wurde die bedeutendste deutsche Börse, die Frankfurter Wertpapierbörse, ursprünglich von der Handelskammer getragen. Im Jahre 1990 übernahm die Trägerschaft der öffentlich-rechtlichen Veranstaltung jedoch eine Aktiengesellschaft, die Frankfurter Wertpapierbörse AG, die sich 1992 in Deutsche Börse AG umbenannte. Der nunmehr privatwirtschaftlich organisierte und auf Gewinn ausgerichtete Börsenträger expandierte weit über das angestammte Geschäft der Frankfurter Wertpapierbörse hinaus. Im Jahr 2000 unternahm die Deutsche Börse AG sogar einen ersten Versuch, die London Stock Exchange (LSE) zu übernehmen. Sie scheiterte aber am Widerstand der LSE-Eigentümer, obwohl das Frankfurter Management bereit gewesen wäre, das Hauptgeschäft von Frankfurt nach London zu verlagern. Vier Jahre später folgte ein weiterer Versuch zur Übernahme der LSE. Dieses Mal kamen dem Management aber die eigenen Eigentümer in die Quere: Ein international agierender Hedge-Fonds und andere einflußreiche Aktionäre warfen ihm Wertvernichtung zu Lasten der Eigentümer vor und wollten die prall gefüllte Kasse der Börse lieber für den Rückkauf eigener Aktien verwendet sehen. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Börse AG (der übrigens kein Deutscher, sondern ein Ausländer war) erklärte daraufhin 2005 seinen Rücktritt. Im Hintergrund der Affäre spielte eine wichtige Rolle, daß sich die Pariser Börse Eurenext ebenfalls um die Übernahme der LSE bemühte. Bei einem Erfolg der Frankfurter Börse wäre sie der Verlierer gewesen. Das konnte aber kaum im Interesse solcher Kapitalanleger sein, die sich an beiden Börsen eingekauft hatten...
Die Strombörse EEX in Leipzig ist – zumindest was den dominierenden Elternteil betrifft – ebenfalls ein Abkömmling der Frankfurter Börse und deren geschäftlichen Expansionsdrangs. Die Deutsche Börse AG übernahm nämlich 1993 die Deutsche Terminbörse GmbH (DTB), die kurz davor von Banken gegründet war, um den neuen Handel mit Derivaten zu forcieren. Die DTB fusionierte ihrerseits 1998 mit der schweizerischen Derivate-Handelsplattform Soffex zur Eurex als einer international agierenden Börse für rein finanzielle Termingeschäfte. Die Eurex wiederum war die treibende Kraft hinter der Gründung der ersten deutschen Strombörse in Frankfurt, die zwei Jahre später erfolgte, und ist bis heute größter Anteilseigner der EEX in Leipzig.
Damit einher ging die Computerisierung des Börsenbetriebs. Bei der Frankfurter Börse begann sie in der ersten Hälfte der neunziger Jahre mit dem "computerunterstützten Parketthandel", der sich vorläufig noch in das hergebrachte Konzept der Präsenzbörse einfügte. Mit der Einführung des neuen elektronischen Handelssystems Xetra (Exchange Electronic Trading) Ende 1997 wurde dann aber der Rubikon zu einer vollständigen Computerisierung des Börsenhandels überschritten. Xetra bildete eine neue, eigenständige Handelsplattform, die aufgrund der vorliegenden Aufträge selbständig den Börsenpreis ermittelte. Nicht nur die Präsenz der Börsenteilnehmer auf dem Parkett wurde damit überflüssig. Das neue System kam auch ohne Makler und Skontroführer aus.
Das vollelektronische Handelssystem wurde ein solcher Erfolg, daß auf Xetra bald der größte Teil des Umsatzes mit Aktien entfiel. Bereits um das Jahr 2000 erwog deshalb die Frankfurter Börse die Abschaffung des Parketthandels. Das unterblieb zwar vorläufig. Aber der Parketthandel spielte fortan nur noch eine marginale Rolle.