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In den Anfängen war die Stromversorgung völlig dezentralisiert: Jede "Zentrale" versorgte ihren eigenen Bereich, der einen Radius von einigen hundert Metern bis einigen Kilometern hatte. Dies führte zu Kosten, die nicht notwendig gewesen wären. Zum Beispiel mußten die beiden Berliner Zentralen in der Markgrafenstraße und in der Mauerstraße auch tagsüber, wenn der Strombedarf sehr gering war, jeweils einen Maschinensatz laufen lassen, obwohl ein einziger Maschinensatz zur Versorgung beider Netze ausgereicht hätte. So kam man 1887 auf die Idee, die beiden benachbarten Netze miteinander zu verbinden.
Man hatte noch nicht viel Erfahrung im Umgang mit Strom und ließ deshalb große Vorsicht walten: Fachleute befürchteten, daß bei Verbindung der Netze enorme Ausgleichsströme fließen und die Leitungen schmelzen würden. So wurde die Verbindung der Netze erst mal anhand eines Modells im Maßstab 1:25 000 durchgespielt. Man nahm einen Berliner Stadtplan, simulierte die Kabelleitungen durch Nickelinwiderstände und stöpselte an verschiedenen Stellen Meßinstrumente ein, um den Spannungsabfall zu ermitteln. Erst als die Ergebnisse beruhigend ausfielen, wagte man sich an die tatsächliche Verbindung beider Netze. Zur Überraschung aller Beteiligten klappte die Parallelschaltung auf Anhieb. Fortan konnten beide E-Werke sich gegenseitig als Reserve dienen.
Neben und nach den städtischen "Zentralen" entstanden für die Versorgung des ländlichen Raums die "Überlandzentralen". Von 1903 bis 1913 stieg die Gesamtzahl der Elektrizitätswerke in Deutschland von 939 auf 4 040. Die Gesamtleistung erhöhte sich von 483 auf 2 096 Megawatt. Die Übertragunsspannung lag in diesen Netzen zwischen 2000 und 10 000 Volt.
Die Stromversorgung durch "Zentralen" war in Wirklichkeit eine dezentralisierte Stromversorgung. Die Netze waren klein und wurden in der Regel von einem einzigen Kraftwerk versorgt. Der nächste Schritt bestand in der Vernetzung all dieser "Zentralen", wobei die Überlandzentralen vorangingen und oft staatliche Instanzen die Regie übernahmen. So entstanden vor allem in den zwanziger Jahren größere Regional-Netze: Etwa die des Bayernwerks und des Badenwerks in Süddeutschland, des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks (RWE) im Westen, der Preußischen Elektrizitäts AG (Preussag) im Norden und der reichseigenen Elektrowerke (Ewag) in Mitteldeutschland.
Die Höchstspannung in diesen Regional-Netzen betrug 110 Kilovolt. Es gab stellenweise auch schon Verbindungen zwischen den Regionalnetzen. Ebenso wurden erste Brücken zu Kraftwerken im benachbarten Ausland (Österreich, Schweiz) hergestellt. Dennoch blieb der Stromaustausch beschränkt. Auch benachbarte Netze mußten schon aus technischen Gründen im wesentlichen unabhängig voneinander betrieben werden.
Eine weitere Etappe der Netz-Entwicklung begann in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, als das RWE eine "Verbundleitung" quer durch Deutschland errichtete, um die Kohlekraftwerke des rheinischen Reviers mit den Wasserkraftwerken der Alpen zu verbinden. Diese Leitung diente allein dem Strom-Transport zwischen den Regionalnetzen und war erstmals für eine Betriebsspannung von 220 Kilovolt ausgelegt. Sie verhalf allen folgenden "Verbundleitungen" zu ihrem Namen.
Neben dem Rheinland bildete das mitteldeutsche Braunkohlenrevier den zweiten Schwerpunkt der deutschen Stromerzeugung. In den dreißiger Jahren wurden beide durch eine 220 Kilovolt-Leitung verbunden. Sie ermöglichte den Stromaustausch zwischen den Netzen von RWE, Preussag und Ewag. 1940 wurde eine weitere 220 Kilovolt-Leitung von Mitteldeutschland nach Österreich geführt. Sie bildete gewissermaßen das Gegenstück zur RWE-Verbundleitung und sollte ebenfalls die Verbindung von Kohle- und Wasserkraftwerken (Kaprun) herstellen.
So entstand bis Kriegsende ein 220 Kilovolt-Verbundnetz zwischen Ruhrgebiet, mitteldeutschem Revier und Süddeutschland, das die wichtigsten Kraftwerke miteinander verband und den von ihnen erzeugten Strom auf die angeschlossenen Regionalnetze verteilte. Zugleich verstärkten die Regionalnetze ihren Stromaustausch auf der 110 Kilovolt-Ebene. Zum Beispiel betrieb die Ewag ihr bis nach Schlesien reichendes Netz seit 1930 parallel mit der Berliner Stromversorgung.
Den nationalsozialistischen Machthabern war das Verbundsystem eigentlich suspekt, weil es ihren Kriegsplänen im Wege stand: Sie befürchteten, daß ein großräumiges Netz unter gezielten militärischen Schlägen schneller zusammenbrechen werde als eine dezentralisierte Stromversorgung. Aber dann traten sie gewissermaßen die Flucht nach vorn an und unterwarfen das Verbundsystem einer strengen Kommandowirtschaft: Der 1939 eingesetzte "Reichslastverteiler" lenkte die elektrische Energie über die "Reichssammelschiene" des Hochspannungsnetzes dorthin, wo es kriegs- und rüstungswirtschaftlich notwendig erschien. Anderen Verbrauchern wurde der Strom rigoros rationiert.
Nach Kriegsende führte die politische Teilung Deutschlands bald auch zu einer völligen Trennung der Stromversorgung. In beiden Teilen Deutschlands entstandenen jeweils eigene Verbundnetze, die schrittweise bis zur 380 Kilovolt-Ebene ausgebaut wurden. Westberlin versorgte sich im Inselbetrieb aus eigenen Kraftwerken selbst. Den Kern des jeweiligen Verbundnetzes bildete im Westen die RWE-Schiene vom rheinischen Revier nach Süddeutschland und im Osten das Hochspannungsnetz der ehemaligen Ewag.
Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten war zunächst noch keine gemeinsame Stromversorgung möglich. Die Netze in West und Ost gehörten weiterhin unterschiedlichen internationalen Verbundnetzen an. Es mußten zuerst die unterbrochenen Verbindungen des mitteldeutschen Netzes nach dem Ruhrgebiet und nach Süddeutschland wiederhergestellt sowie zwei zusätzliche Querspangen eingefügt werden, um einen gesamtdeutschen Verbund zu ermöglichen. Die Inbetriebnahme des gesamtdeutschen Verbundnetzes erfolgte im Herbst 1995.