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Mit gefüllten Kriegskassen in den Wettbewerb

 

Bis zur Liberalisierung und noch danach neigten die Stromkonzerne dazu, in Bereiche außerhalb ihres angestammten Geschäfts zu investieren. Vor allem die Geschäftsfelder Entsorgung und Telekommunikation schienen sich für eine Strategie der „Diversifikation“ anzubieten. Schließlich verfügten die großen Stromunternehmen über satte Finanzpolster, die sie in der eigenen Branche nicht verausgaben konnten, da sich die bislang festgefügten Strukturen der deutschen Stromlandschaft erst mit der 1998 in Kraft tretenden Liberalisierung aufzulösen begannen.

Milliarden aus steuerfreien KKW-Rückstellungen

Auf dicken Finanzpolstern saßen vor allem die Kernkraftwerksbetreiber. Sie hatten als Bestandteil der Stromkosten und damit zu Lasten der Stromverbraucher steuerfreie Rückstellungen für die Entsorgung und Stillegung von Kernkraftwerken gebildet, die sich nach Angaben des VDEW bis Ende 1996 auf 54 Milliarden Mark beliefen. Bei Beginn der Liberalisierung 1998 waren es bereits 72 Milliarden Mark. Über diese enormen Summen konnten sie beliebig verfügen, zumal noch Jahre und Jahrzehnte vergehen würden, bis der Betrieb von Endlagern oder der Abriß von Kernkraftwerken tatsächlich anstand. Beispielsweise konnten sie das Geld zinsbringend anlegen oder damit andere Unternehmen kaufen. Es bestehe „keine Verpflichtung, diese Finanzmittel in bestimmter Art und Weise anzulegen“, beschied die Bundesregierung im Mai 1997 eine Kleine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer. „Das Unternehmen wird aus Eigeninteresse eine Mittelanlage wählen, welche gewährleistet, daß die der Rückstellung zugrundeliegende Verpflichtung bei Fälligkeit erfüllt werden kann.“

Erst 1999 kam auf Betreiben des damaligen Finanzministers Oskar Lafontaine eine gesetzliche Regelung zustande, die den Umfang der steuerrechtlich akzeptierten Rückstellungen verringerte. Dennoch blieb der Wettbewerbsvorteil der Kernkraftwerksbetreiber gegenüber anderen Stromunternehmen grundsätzlich bestehen. Vor allem kommunale Versorger sahen darin eine massive Benachteiligung, die auch nach europäischem Recht eine unzulässige Beihilfe darstelle. Ihre Beschwerde wurde aber sowohl von der EU-Kommission als auch vom Europäischen Gerichtshof zurückgewiesen.

Im Jahr 1997 verfügten die Kernkraftwerksbetreiber im einzelnen über folgende steuerfreie Rückstellungen:

RWE (seit 2000 mit VEW) 16,8 Milliarden DM
Bayernwerk (seit 2000 E.ON) 11,5 Milliarden DM
PreussenElektra (seit 2000 E.ON) 10,9 Milliarden DM
EnBW (seit 2003 mit NWS) 8,1 Milliarden DM
HEW (seit 2000 zu Vattenfall) 4,7 Milliarden DM
NWS (seit 2003 EnBW) 4,1 Milliarden DM
VEW (seit 2000 RWE) 3,7 Milliarden DM

Diese enormen Summen, die über die Strompreise von den Stromverbrauchern aufgebracht worden waren, verwendeten die Kernkraftwerksbetreiber zum großen Teil für den Aufkauf und die Neugründung von Unternehmen außerhalb des angestammten Energiegeschäfts. An erster Stelle standen dabei die Bereiche Entsorgung und Telekommunikation.

Verlockendes Geschäft mit der „energetischen Verwertung“ von Müll

Durch den Betrieb von Müllheizkraftwerken sowie die Verstromung von Deponie- und Klärgas gab es bereits gewisse Berührungspunkte zum Geschäft mit dem Abfall, das ab 1. November 1986 durch das novellierte Abfallgesetz, ab Juni 1991 durch die Verpackungsverordnung und ab 1993 durch die „TA Siedlungsabfall“ auf neue rechtliche Grundlagen gestellt wurde. Müllheizkraftwerke waren allerdings eine Spezialität von Stadtwerken, die als Querverbundunternehmen neben der Strom-, Gas- und Wasserversorgung auch die Abfallentsorgung übernahmen. Strom war dabei eher ein Nebenprodukt. Im Vordergrund standen Abfallbeseitigung und Fernwärmegewinnung.

Nun aber interessierten sich mit RWE, VEW und EnBW auch drei große deutsche Stromkonzerne für das Geschäft mit dem Müll. Während RWE und VEW in großem Stil ins traditionelle Entsorgungsgeschäft einstiegen, setzte die EnBW auf das sogenannte Thermoselect-Verfahren, das auf einer neuartigen technischen Basis die „thermische Behandlung“ von Abfällen mit Stromgewinnung verbinden sollte. Das neue Abfallrecht honorierte dies nämlich als „energetische Verwertung“ im Unterschied zur reinen Müllverbrennung.

RWE wird Marktführer bei der Entsorgung

Der RWE-Konzern stieg sogar zum Marktführer im Bereich Entsorgung auf. Mit der 1989 gegründeten RWE Entsorgung AG, die seit 1998 RWE Umwelt AG hieß, lehrte er die sonst mittelständisch geprägte Branche das Fürchten. Als 1993 das sogenannte Duale System (DSD) zur Entsorgung von Verpackungsmüll vor dem Bankrott stand, weil es die Rechnungen der Entsorger nicht mehr bezahlen konnte, spielte RWE die wichtigste Rolle beim Verzicht der Entsorgungsfirmen auf die geschuldete Summe in Höhe von rund 870 Millionen Mark. Als Gegenleistung sicherte sich RWE ein Sechstel der Sitze im DSD-Aufsichtsrat und einen von vier Geschäftsführerposten. Der „Filz“, für den die Entsorgungsbranche berüchtigt war, lag allerdings in den seltensten Fällen derart offen zutage.

Das westfälische Verbundunternehmen VEW kaufte 1993 die Edelhoff AG, um ebenfalls ins Entsorgungsgeschäft einzusteigen. Durch die Fusion von RWE und VEW gelangte Edelhoff im Jahr 2000 zur RWE Umwelt AG und stärkte deren Position als Marktführer.

Strom und Gas sind noch lukrativer als das Umweltgeschäft

Zuletzt erzielte RWE Umwelt mit über 12 500 Mitarbeitern einen Umsatz von 1,9 Milliarden Euro. Sie war eine der Führungsgesellschaften unter dem Dach der Konzern-Holding und zählte damit zum Kerngeschäft. Ihre Rentabilität hielt aber nicht Schritt mit den üppigen Erträgen aus dem Strom- und Gasgeschäft, weshalb sie eher als Klotz am Bein der RWE-Aktien empfunden wurde (zumindest von den Vorständen, deren Bezüge zum Teil an die Kursentwicklung der RWE-Aktien gebunden waren). Im Jahr 2004 verkaufte RWE deshalb das gesamte Umweltgeschäft an den bisherigen Branchenzweiten „Remondis“.

EnBW scheitert mit „Thermoselect“

Unterdessen plagte sich die EnBW mit dem „Thermoselect“-Verfahren herum. Es handelte sich um eine Hinterlassenschaft des Badenwerks, das 1993 die Lizenz für das Verfahren erworben hatte. 1995 war mit dem Bau einer ersten Anlage in Karlsruhe begonnen worden, die bis 1999 fertig sein sollte. Die anderen EnBW-Vorläufer – EVS, Neckarwerke und TWS – hatten dagegen auf das konkurrierende Schwel-Brenn-Verfahren von Siemens gesetzt, das schon 1999 wegen technischer Probleme beerdigt wurde. Nach der 1997 erfolgten Fusion von EVS und Badenwerk konzentrierte sich die neue EnBW ganz auf „Thermoselect“. Trotz aller Anstrengungen geriet das Projekt aber zu einem endlosen Desaster. Im Jahr 2004 zog die EnBW endlich einen schmerzhaften Schlußstrich unter dieses Abenteuer, das sie insgesamt über 400 Millionen Euro gekostet hatte.

Zu den Altlasten rechnete die EnBW nun auch über 140 weitere Beteiligungen, die ziemlich wahllos zusammengekauft wirkten: So war sie 1998 Großaktionär und zwei Jahre später Mehrheitseigentümer des Schuhfabrikanten Salamander geworden. Unter dem Dach von Salamander hatte sie außerdem verschiedene Dienstleistungen wie den Betrieb von Parkhäusern angesiedelt.

Beseitigung des Fernmeldemonopols weckt große Erwartungen

Den zweiten großen Investitionsbereich entdeckten die Stromunternehmen in der Telekommunikation, die etwas früher als die Stromwirtschaft nach den Vorgaben aus Brüssel liberalisiert wurde. Es lag deshalb nahe, die im Stromgeschäft erwirtschafteten Monopolgewinne in diesen zukunftsträchtigen Bereich zu investieren. Die Liberalisierung der Telekommunikation begann am 1. August 1996, als das neue Telekommunikationsgesetzes (TKG) unter anderem den Mobilfunk für neue Anbieter öffnete, und fand ihren Abschluß mit der Aufhebung des Telefonmonopols am 1. Januar 1998.

Die Stromversorger hatten schon immer betriebseigene Draht- und Funkverbindungen zur Steuerung der Stromversorgung benötigt. Bisher durften sie dieses Parallel-Netz aber nur für betriebsinterne Zwecke verwenden. Das änderte sich mit der Aufhebung des Fernmeldemonopols der Post bzw. der Telekom. Die Netzbetreiber brauchten jetzt nur die alten Telefondrähte entlang der Hochspannungstrassen durch moderne Glasfaserkabel zu ersetzen, um über ein leistungsfähiges Netz zu verfügen, das sich mit dem der Telekom messen konnte. Bei der Neuverlegung von Leitungen konnten die Lichtwellenleiter gleich in das Hochspannungs-Leiterseil integriert werden. Besonders verlockend war auch der Gedanke, diese teuren Vorleistungen für den geplanten Einstieg ins Telekommunikationsgeschäft über die behördlich genehmigten Strompreise auf die Verbraucher abwälzen zu können.

Das Problem der „letzten Meile“ zum Endkunden

Im Unterschied zur Telekom fehlte den Festnetzen der Stromversorger allerdings der direkte Zugang zu den Endkunden. So kamen sie auf die Idee, die „letzte Meile“ per Funk oder über die normale Stromleitung zu überbrücken. Neben Telefon, Internet usw. sollten auf diese Weise Zählerstände und andere betriebliche Daten übertragen werden können. Im März 1996 startete RWE in Gelsenkirchen einen Modellversuch, um die Reichweiten des schnurlosen Telefons (DECT-Standard) durch ein engmaschiges Netz von Basisstationen auf Gebäuden und Laternenmasten zu erweitern. Die Ergebnisse waren indessen unbefriedigend. Fortan konzentrierten sich alle Bemühungen auf Techniken, die es ermöglichen sollten, normale Stromleitungen auch für Kommunikationszwecke zu nutzen. Mit „Powerline Communication“ (PLC) sollten der Internet-Zugang und andere hochwertige Datenübertragungen per Steckdose bzw. über die normale Stromleitung ermöglicht werden.

Einstieg in Mobilfunk- und Festnetzunternehmen

Schon lange vor der Freigabe des Mobilfunks gehörte die Veba-Tochter PreussenElektra zu einem Konsortium, das im Februar 1993 die Lizenz für den Mobilfunkbetreiber „E-Plus“ erwarb, der neben Telekom und Mannesmann mit dem Aufbau eines weiteren Mobilfunknetzes begann. Im Oktober 1994 erwarb RWE Energie die Preussag Mobilfunk.

Ähnlich beim Festnetz: Bereits im Januar 1995 verbündete sich die damalige Veba AG mit dem britischen Telekommunikationskonzern Cable & Wireless. Zur Veba gehörte das Verbundunternehmen PreussenElektra, das im Norden Deutschlands über ein ausgedehntes Glasfaser-Netz entlang der Hochspannungsleitungen verfügte. Noch im selben Jahr schloß Veba eine Grundsatzvereinbarung mit der Deutschen Bahn, um auch entlang der Bahnstrecken Glasfaserkabel verlegen zu können. Dazu kam es aber ebensowenig wie zu einem geplanten Bündnis mit Mannesmann Mobilfunk, weil sich die Bahn im Juli 1996 für Mannesmann als Partner bei der Telekommunikation entschied.

RWE und Veba gründen „Otelo“

Als Reaktion auf das Bündnis von Veba und Cable & Wireless kündigten RWE und sechs weitere Verbundunternehmen im Februar 1995 an, ihre betriebseigenen Fernmeldenetze flächendeckend zusammenzuschalten, um die verschiedensten Dienstleistungen im Bereich der Telekommunikation anbieten zu können. Neben der RWE Energie wollten sich Badenwerk, EVS, HEW, Veag und VEW an dem geplanten Bündnis beteiligen. Übrig blieben schließlich RWE, VEW und Veag. Dafür gesellten sich im Februar 1996 der Viag-Konzern (Bayernwerk) und die British Telecom zu der von RWE geführten Telefonallianz. Aber schon im Oktober 1996 platzte dieses Bündnis, weil RWE sich für eine Partnerschaft mit dem bisherigen Konkurrenten Veba entschied und im Februar 1997 mit diesem das Gemeinschaftsunternehmen Otelo gründete (Cable & Wireless war inzwischen wieder ausgestiegen). Nicht nur Verbundunternehmen wurden vom Telekommunikations-Fieber ergriffen. Auch Regionalversorger rechneten sich gute Chancen aus. So gründeten im Februar 1997 fünf ostdeutsche Regionalversorger die „Regiotel“ als regionale Telekommunikationsgesellschaft. In Mannheim verband die MVV Energie ihre Umspannwerke über einen hundert Kilometer langen Glasfaserring und setzte im übrigen auf „Powerline“, um die restlichen Distanzen zu Geschäfts- und Privatkunden im Mittel- und Niederspannungsnetz überbrücken zu können. Die Kölner GEW beteiligte sich an einem Powerline-Projekt von Bewag und HEW.

Ernüchterung und Rückzug aus dem Telekommunikationsgeschäft

Nachdem das Telefonmonopol Anfang 1998 gefallen war, zeigte sich aber bald, daß es gar nicht so einfach war, die hohen Investitionen in den Telekommunikationsbereich in Gewinne zu verwandeln. Die wenige Monate später beginnende Liberalisierung der Stromwirtschaft ließ es auch nicht mehr ratsam erscheinen, viel Geld außerhalb der eigenen Branche zu binden, denn bald begann ein Reigen von Kooperationen, Beteiligungskäufen und Fusionen, der die Finanzen aufs äußerste strapazierte. Die Telekom-Euphorie der Stromunternehmen ließ deshalb bald nach. Damit einher ging eine deutliche Abwendung vom Konzept der „Diversifizierung“ allgemein und die Rückbesinnung aufs Stammgeschäft mit Strom, Gas und Wärme.
Im April 1999 beendeten Veba und RWE ihren gemeinsamen Ausflug ins Gebiet der Telekommunikation, indem sie die die Festnetz-Telefongesellschaft Otelo an Mannesmann-Arcor verkauften. Ein halbes Jahr später verkauften sie auch ihre mehrheitliche Beteiligung am drittgrößten deutschen Mobilfunkbetreiber E-Plus. Der neue E.ON-Konzern, der im Jahr 2000 aus Veba und Viag entstand, erbte von den früheren Telekom-Aktivitäten der beiden Konzerne nur noch die Viag Interkom, die Anfang 1995 aus dem Bündnis der Viag (Bayernwerk) mit British Telecom entstanden war. Anfang 2001 überließ er aber auch diese Beteiligung vollständig den Briten und aus der Viag Interkom wurde „O 2“.

Auch „Powerline“ hat keine Zukunft

Die Powerline-Projekte überlebten etwas länger. Noch in den Jahren 1999/2000 übertrafen sich E.ON, RWE und EnBW mit Erfolgsmeldungen über ihre jeweiligen Pilotprojekte, die jeweils zu Beginn der Elektronik-Messe CeBIT lanciert wurden, um die Aktienkurse zu beflügeln. Die vielversprechende Technik funktionierte aber nur im Prinzip. Ihre praktische Anwendung litt stark unter Problemen der elektromagnetischen Verträglichkeit. Hinzu kamen neue Techniken der Datenübertragung wie DSL und Breitbandkabel, die größere Marktchancen hatten. Bis Herbst 2002 verabschiedeten sich deshalb alle großen Stromkonzerne und die mit ihnen kooperierenden Elektronikhersteller von den PLC-Projekten. Nur die Mannheimer MVV betrieb ihr PLC-Projekt weiter, bis auch sie im März 2004 diesen Ausflug in die Telekommunikation mit einem Verlust von über 30 Millionen Euro abschrieb.