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Das neue Energierecht war derart mangelhaft, daß noch acht Jahre nach seinem Inkrafttreten beim Gas keine Spur von Wettbewerb existierte. Jedenfalls stellte dies die Monopolkommission in ihrem 16. Hauptgutachten fest, das sie am 5. Juli 2006 veröffentlichte:
"Im Gasbereich ist das Fehlen eines nicht diskriminierenden und wettbewerblich funktionsfähigen Netzzugangsmodells die Hauptursache dafür, dass sich Wettbewerb noch nicht einmal ansatzweise hat entwickeln können. Wettbewerber werden im Gasbereich durch entfernungsabhängige Tarife auf der Ferngasebene diskriminiert und von Kostenvorteilen der Saldierung entgegengerichteter Lastflüsse ausgeschlossen. Das auf dem Konzept der Punkt-zu-Punkt-Durchleitung beruhende Netzzugangsmodell war aufgrund hoher Transaktionskosten von vornherein untauglich für das Massengeschäft mit Haushaltskunden."
Rückblickend rügte die Kommission die "unzulängliche institutionelle Ausgestaltung der Netzregulierung", wie sie das Energiewirtschaftsgesetz von 1998 und die darauf fußende Praxis der Verbändevereinbarungen bewirkten. In den acht Jahren seit der Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte seien so "zementierte Marktstrukturen" entstanden, die auch durch eine funktionierende Regulierung des Netzbereichs kaum noch aufgebrochen werden könnten.
Das neue Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), das am 29. April 1998 in Kraft trat, schrieb in § 6 den „verhandelten Netzzugang“ bei Elektrizität vor. Für den Netzzugang bei Gas gab es noch keine entsprechende Bestimmung. Diese wurde erst fünf Jahre später eingefügt.
Die Alternative gemäß den EU-Richtlinien wäre der "geregelte Netzzugang" gewesen. Der Unterschied bestand darin, daß im ersten Fall die Aushandelung des Netzzugangs und der Netzentgeltberechnung den beteiligten Wirtschaftsverbänden überlassen blieb, während im zweiten Fall eine staatliche Behörde verbindliche Vorschriften erließ und deren Einhaltung überwachte.
Deutschland blieb das einzige Land, das den „verhandelten Netzzugang“ für Strom und Gas einführte. Alle anderen EU-Mitglieder entschieden sich von vornherein für den „geregelten Netzzugang“.
Aus heutiger Sicht läßt sich nur schwer begreifen, weshalb die CDU/FDP-Regierung unter Kanzler Helmut Kohl und anschließend die beiden rot-grünen Bundesregierungen unter Gerhard Schröder sich so vehement für „verhandelten Netzzugang“ einsetzten. Nach dem Kleinen Einmaleins der Nationalökonomie kann ein „natürliches Monopol“, wie es die Strom- und Gasnetze sind, nur durch staatliche Regulierung dieses Sektors einigermaßen wettbewerbsneutral gestaltet werden. Eine Regulierungsbehörde wäre deshalb auch in Deutschland von Anfang an notwendig gewesen.
Aber offensichtlich entsprach der „verhandelte Netzzugang“ mehr den Interessen der etablierten Strom- und Gaswirtschaft. Eine wirksame Regulierung hätte den Verlust angestammter Marktanteile durch neue Wettbewerber bedeutet. Offen gesagt wurde das natürlich nicht. In ihren offiziellen Verlautbarungen überboten sich die Strom- und Gasbranche wie auch die Bundesregierung in Lippenbekenntnissen zum Wettbewerb und nährten die Illusion, eine nichtdiskriminierende Gestaltung des Netzmonopols könne durch unverbindliche Vereinbarungen zwischen Branchenverbänden mit unterschiedlich starker Durchsetzungskraft erreicht werden.
Die Stromwirtschaft einigte sich schon bei Inkrafttreten des neuen Energiewirtschaftsgesetzes über eine solche Verbändevereinbarung. Die Branchenverbände mußten nämlich befürchten, daß andernfalls die Einzelheiten des Netzzugangs durch eine Verordnung des Bundeswirtschaftsministeriums festgelegt würden. Diese Möglichkeit ließ das neue Energiewirtschaftsgesetz ausdrücklich zu.
Für den Bereich der Gaswirtschaft enthielt das neue Energiewirtschaftsgesetz weder eine solche Ermächtigung noch irgendwelche Detailvorschriften, an die eine Verbändevereinbarung hätte anknüpfen können. Die Branchenverbände zeigten schon deshalb keine Eile, der Stromwirtschaft nachzueifern.
Erst auf Wunsch und Druck der Bundesregierung kam es am 4. Juli 2000 zur Unterzeichnung einer Verbändevereinbarung Gas. Dieses Papier war aber äußerst dürftig und nur auf Bedürfnisse des Großhandels zugeschnittten. Vereinbart wurde es vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), dem Verband der industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK), dem Bundesverband der Deutschen Gas- und Wasserwirtschaft (BGW) und dem Verband kommunaler Unternehmen (VKU).
Die Unterzeichnung dieser ersten Verbändevereinbarung Gas erfolgte im Beisein des Bundeswirtschaftsministers. Er wollte damit demonstrieren, daß sich nun auch beim Gas etwas tat. Denn soeben hatte die EU-Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren gedroht, wenn ihre Gasrichtlinie nicht auch in Deutschland endlich umgesetzt würde.
Das Bundeswirtschaftsministerium hatte die Abmahnung aus Brüssel "mit Befremden" zurückgewiesen und behauptet, der deutsche Gasmarkt sei schon seit 1998 faktisch vollständig geöffnet. Angesichts der Realität wirkte das wie ein schlechter Witz. Die formale Liberalisierung durch das neue Energiewirtschaftsgesetz hatte an den alten Verhältnissen faktisch nichts geändert. Die Gaswirtschaft war so monopolistisch und wettbewerbsfeindlich wie eh und je.
Die erste Verbändevereinbarung Gas war, wie gesagt, ein sehr dürftiges Papier, mit dem die Branchenverbände ihre konträren Interessen eher verkleisterten als klärten. Noch im selben Jahr setzten sie sich deshalb erneut zusammen, um das unzureichende Papier praktikabler zu machen. Es gelang ihnen aber nicht, eine Einigung zu erzielen. Die im VIK organisierten industriellen Verbraucher beklagten sich heftig über die "anhaltend blockierende Haltung der Gasnetzbetreiber", die durch BGW und VKU vertreten wurden. Die Verhandlungen kamen monatelang nicht voran und drohten gänzlich zu scheitern.
Das Konzept des "verhandelten Netzzugangs" war inzwischen immer stärker unter Beschuß geraten. Vor allem in Brüssel wollte man die Verbändevereinbarungen nicht länger dulden. Um den deutschen Sonderweg doch noch zu retten, drohte der damalige Bundeswirtschaftsminister Werner Müller den Gasverbänden mit der anstehende Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes: Diese werde sein Ministerium ermächtigen, auch den Netzzugang bei Gas durch eine Verordnung zu regeln, und er werde von dieser Ermächtigung unverzüglich Gebrauch machen, falls sie sich nicht endlich einigen würden.
Nach dieser Drohung kam es am 15. März 2001 zur Unterzeichnung eines modifizierten Textes, der den Netzzugang und die Berechnung des Durchleitungsentgelts vereinfachen sollte. Unter anderem sollten die großen Ferngasversorger ihre Erdgasspeicher ab Mitte des Jahres auch für Dritte diskriminierungsfrei zur Verfügung stellen.
Das Bundeskartellamt hielt indessen auch diese zweite Vereinbarung für absolut unzureichend. In einem Brief an die Verbände der Gaswirtschaft kritisierte die Behörde vor allem, das Haushalt und Kleingewerbe noch immer nicht die Möglichkeit hatten, ihren Gaslieferanten zu wechseln. Es könne unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten nicht akzeptiert werden, daß die Verbändevereinbarung weiterhin auf Großverbraucher zugeschnitten sei. Die Branche müsse mit strikter Fusionskontrolle und der Einrichtung einer Regulierungsbehörde rechnen, wenn der Wettbewerb auf dem Gasmarkt nicht bald in Gang komme.
Nach dieser massiven Kritik einigten sich die Verbände auf eine dritte Fassung der Gas-Vereinbarung, die am 14. September 2001 wiederum im Beisein des Bundeswirtschaftsminister unterzeichnet wurde. Sie sah nun auch die Einbeziehung von Haushaltskunden ab 1. Januar 2002 vor. Ferner regelte sie technische Rahmenbedingungen für den Netzzugang und sah eine Schlichtungsstelle zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten vor.
Bundeswirtschaftsminister Werner Müller verteidigte bei dieser Gelegenheit erneut das Konzept des verhandelten Netzzugangs. Es sei am ehesten geeignet, die Liberalisierung des Gasmarktes voranzutreiben. Die Forderung nach Einsetzung einer Regulierungsbehörde gehe in die falsche Richtung.
Die Gashändler blieben der Unterzeichnung der dritten Verbändevereinbarung Gas im Bundeswirtschaftsministerium demonstrativ fern. "Jeden Tag, den die Liberalisierung länger auf sich warten läßt, können Gaslieferanten weiter Monopolrenditen abgreifen", erklärte der Vorsitzende der Vereinigung deutscher Strom- und Gashändler (EFET). Dem Bundeswirtschaftsministerium fehle sichtlich der politische Wille, die Hinhaltetaktik der Branche zu beenden.
In der Tat übte das Bundeswirtschaftsministerium nur insoweit Druck auf die Branche aus, als ihm dies notwendig erschien, um die zerstrittenen Verhandlungspartner doch noch an einen Tisch zu bringen und so das Konzept des verhandelten Netzzugangs zu retten. Dies zeigte sich auch im April 2002, als die Verhandlungen über eine "Verbändevereinbarung II" scheiterten, welche die zweimal modifizierte erste Vereinbarung ablösen sollte. Das Ministerium griff daraufhin zum dicksten Knüppel, über den es verfügte, indem es die Einsetzung einer Regulierungsbehörde ankündigte. Zugleich offerierte es den Verbänden aber eine letzte Chance, wenn sie sich doch noch auf eine freiwillige Regelung einigen würden.
So kam es dann am 3. Mai 2002 zur Unterzeichnung der Verbändevereinbarung II für die Gaswirtschaft, die in Wirklichkeit die vierte Fassung des ursprünglichen Papiers darstellte. Mit dieser Neufassung der Verbändevereinbarung Gas und der mittlerweile dritten Fassung der Verbändevereinbarung Strom ("VV II plus") zog die rot-grüne Bundesregierung ins letzte Gefecht zur Verteidigung des verhandelten Netzzugangs.
Als Abwehrbastion sollte die Neufassung des Energiewirtschaftsgesetzes dienen. Neben der längst überfälligen Umsetzung der EU-Gasrichtlinie enthielt das im Mai 2002 vom Bundestag beschlossene Gesetz einen Passus, der die Verbändevereinbarungen zur Netznutzung als "gute fachliche Praxis" bezeichnete. Damit sollte den Verbändevereinbarungen eine gewisses Maß an rechtlicher Verbindlichkeit verliehen werden. Denn es gehörte bisher zu den Absurditäten des verhandelten Netzzugangs, daß die von den Verbänden getroffenen Vereinbarungen völlig unverbindlich waren. Die Unternehmen konnten sich daran halten oder auch nicht.
Die Verrechtlichung der Verbändevereinbarungen erschwerte es zugleich dem Bundeskartellamt, gegen Behinderungen bei der Netznutzung vorzugehen. Bisher mußten die Netzbetreiber nachweisen, daß Mißbrauchsvorwürfe unbegründet waren. Nun wurde von Gesetzes wegen "eine gute fachliche Praxis" unterstellt, wenn Netzbetreiber die Verbändevereinbarung einhielten. Die Beweislast wurde also zum Nachteil des Bundeskartellamts umgekehrt.
Die EU-Kommission hatte inzwischen das angedrohte Vertragsverletzungsverfahren wegen Nichtumsetzung der Gasrichtlinie eingeleitet. Dennoch kam es erst im Frühjahr 2003 zum Inkrafttreten der EnWG-Novelle. Wegen des Widerstands der unionsregierten Länder im Bundesrat und der bevorstehenden Bundestagswahlen war die Zeit für die Überwindung aller parlamentarischen Hürden plötzlich zu knapp geworden.
Als die wiedergewählte rot-grüne Koalition Anfang des folgenden Jahres die Novelle erneut auf die parlamentarische Tagesordnung setzte, konnte der Bundesrat die rechtliche Bedeutung der Verbändevereinbarungen etwas abschwächen. Die Vermutung "guter fachlicher Praxis" wurde nun hinfällig, wenn "die Anwendung der Vereinbarung insgesamt oder die Anwendung einzelnen Regelungen der Vereinbarung nicht geeignet ist, wirksamen Wettbewerb zu gewährleisten". Damit sollte es dem Bundeskartellamt weiterhin möglich sein, gegen einzelne Bestandteile der Verbändevereinbarungen vorzugehen.
Im Grunde handelte es sich bei der Verrechtlichung der Verbändevereinbarungen um einen juristischen Winkelzug, der eines seriösen Gesetzgebers unwürdig war. Das Landgericht Berlin sah das wohl ähnlich, denn im März 2003 befand es die Verbändevereinbarungen für unvereinbar mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Den Anlaß bot eine Klage des Bundesverbands neuer Energieanbieter (BNE), den die bisherigen Partner der Verbändevereinbarung Gas nicht in ihre Verhandlungsrunde aufnehmen wollten. Das Gericht wies den Antrag schon deshalb ab, weil die Verhandlungen über eine dritte Verbändevereinbarung Gas auf eine "unzulässige Kartellabsprache" hinausliefen. Daß die Gas-Verhandlungsrunde vom Bundeswirtschaftsministerium gebilligt und sogar initiiert werde, ändere nichts an ihrem illegalen Charakter.
Die Gespräche über eine dritte Verbändevereinbarung Gas wurden im April 2003 abgebrochen, weil sowohl VIK als auch BDI keine Chancen mehr sahen, "durch Verhandlungen auf Verbandsebene geeignete Voraussetzungen für einen funktionierenden Wettbewerb zu schaffen". Das Bundeswirtschaftsministerium drohte daraufhin erneut mit einer Regulierungsbehörde "jedenfalls für den Gasbereich", falls die Verhandlungen nicht wieder aufgenommen würden.
Die Drohung verfing nicht mehr. Der fünfte Akt des Trauerspiels "Verbändevereinbarung Gas" blieb unvollendet. Denn inzwischen war klar, daß die Regulierung sowieso kommen würde und die Verfechter des verhandelten Netzzugangs auf verlorenem Posten standen. Im Juni 2003 erließ die EU neue Richtlinien zur vollständigen Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte. Danach mußten alle Verteilnetzbetreiber mit mehr als 100.000 Abnehmern eine gesellschaftsrechtliche Trennung von Netz und Betrieb durchführen. Vor allem aber hatten nun alle Mitgliedsländer nationale Regulierungsbehörden einzurichten, denen es oblag, die Netzentgelte für Strom und Gas festzulegen und sonstige Konditionen des Netzzugangs zu bestimmen.