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Der "Wattikan" gibt Gas

RWE übernimmt drei deutsche Verteilnetze und die gesamte Gasversorgung in Tschechien

 

Verdichterstation der tschechischen Transgas, die seit 2002 zum RWE-Imperium gehört

Als erster stieg der RWE-Konzern ins Gasgeschäft ein, der traditionell das führende deutsche Stromunternehmen war und deshalb scherzhaft auch als "Wattikan" bezeichnet wurde. Er hatte seine erste strategische Beteiligung schon unter Dach und Fach, als sich der E.ON-Konzern, der ihm bald darauf beim Strom wie beim Gas den Rang ablaufen sollte, noch in der Gründung befand.

Genau genommen handelte es sich um einen Wiedereinstieg, denn schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts besaß das damalige "Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk" (RWE) ein großes Ferngasnetz zur Verteilung von Kokereigas. Es wurde dann 1927 an die neu gegründete Ruhrgas AG verkauft und bildete deren materielle Ausgangsbasis. Seitdem hatte RWE kein Gas mehr im Angebot.

Zugriff auf Gasimport durch Erwerb von Thyssengas

Schon 1997 übernahm RWE vom Viag-Konzern dessen 50-prozentige Beteiligung an der Thyssengas GmbH. Als Gegenleistung überließ er den Regionalversorger Isar Amperwerke der Viag-Tochter Bayernwerk, die bald danach zusammen mit der Viag im E.ON-Konzern aufging. Die andere Hälfte von Thyssengas besaßen vorläufig noch die Mineralölkonzerne Esso und Shell, die sich 1964 bei Thyssengas eingekauft hatten, um die Ruhrgas im Streit um die künftige Belieferung mit Erdgas unter Druck setzen zu können. Im Mai 2000 verkaufte dann die Esso Deutschland GmbH ihren 25-Prozent-Anteil an die RWE Energie AG, da die EU-Kommission die Genehmigung der Fusion von Exxon und Mobil Oil von der Abgabe dieser Beteiligung abhängig gemacht hatte. Drei Jahre später trennte sich dann auch Shell Petroleum N.V. von ihrem 25-Prozent-Anteil und überließ ihn der RWE Gas AG, die inzwischen die zuständige Führungsgesellschaft für das Gasgeschäft war.

Die Thyssengas setzte nicht nur rund 72 Milliarden Kilowattstunden Gas an Weiterverteiler und Endkunden ab, sondern bezog dieses Gas direkt aus den Niederlanden, Norwegen, Russland, Großbritannien und inländischer Förderung. Mit ihrer hundertprozentigen Einverleibung gelang es RWE zum ersten Mal, die ganze Wertschöpfungskette in den Griff zu bekommen. "Mit dem nunmehr vollständigen Zugriff auf den Gasimport und das diversifizierte Gasbeschaffungsportfolio der Thyssengas verstärken diese wichtigen Bausteine die vertikal integrierten Gasaktivitäten des Konzerns", erklärte der Vorstandsvorsitzende von RWE Gas, Manfred Scholle. "Die Gasbeschaffung wird der zentrale Faktor im Wettbewerbsgeschehen der kommenden Jahre sein."

DEA wird Führungsgesellschaft für Gas- und Ölförderung

Unter dem Blickwinkel der Gasbeschaffung entdeckte RWE nun auch den besonderen Reiz der Tochter DEA, die bereits seit 1988 zum Konzern gehörte. Das traditionsreiche Unternehmen war 1899 als Deutsche Tiefbohr-Actiengesellschaft gegründet worden und firmierte ab 1911 als Deutsche Erdöl-Aktiengesellschaft (DEA). Ab 1966 gehörte es zum US-Konzern Texaco und hieß Deutsche Texaco. Als RWE das Unternehmen kaufte, geschah dies nicht in der strategischen Absicht, in die Mineralöl- und Erdgasförderung einzusteigen. Vielmehr war die in finanziellen Nöten steckende US-Mutter zum Verkauf gezwungen, und die Deutsche Bank hatte den finanziell gut gepolsterten Stromkonzern um Übernahme gebeten, um eine Zerschlagung der Deutschen Texaco zu verhindern.

Die DEA, wie sie nunmehr wieder hieß, gehörte fortan zum RWE-Konzern wie die Heidelberger Druckmaschinen AG oder die Hochtief AG. Soweit hinter ihrem Erwerb überhaupt eine geschäftliche Strategie stand, zielte diese auf Anlage der Gewinne aus dem Stammgeschäft mit Strom durch "Diversifikation". Aus derselben Motivation stiegen RWE und andere Stromkonzerne noch kurz vor der Liberalisierung des Energiemarktes in großem Stil in die Bereiche Müll-Beseitigung und Mobilfunk ein.

Mit der Liberalisierung des Energiemarktes wurde diese zeitweilige Tendenz zum Mischkonzern abgelöst durch eine neue Besinnung auf das Kerngeschäft, das nun alle finanziellen Ressourcen beanspruchte, um erfolgreich expandieren zu können und nicht von anderen geschluckt zu werden. Zum neu definierten Kerngeschäft zählten alle Konzerne nunmehr auch Gas. Das übrige galt als Ballast und wurde nach Möglichkeit verkauft, um die Erlöse in die Expansion bei Strom und Gas zu stecken.

Der Betrieb von Tankstellen paßte ebenfalls nicht in das neue Konzept. RWE verkaufte deshalb 2001 das gesamte Geschäft der DEA, soweit es die Verarbeitung und den Verkauf von Mineralölprodukten betraf, an die Deutsche Shell. Im Jargon der Erdölbranche handelte es sich um das "downstream"-Geschäft. Zugleich behielt der Konzern aber den ganzen "upstream"-Bereich, in dem sich die DEA mit der Förderung von Mineralöl und Erdgas befaßte. Er ordnete diesen nun seinem Kerngeschäft zu und kündigte an, ihn weiter auszubauen. Die DEA widmete sich nun intensiv der Förderung von Erdgas und Erdöl im In- und Ausland sowie der Suche nach neuen Lagerstätten. Zum Beispiel förderte sie 2007 über drei Millionen Kubikmeter Erdgas (Öläquivalent), wovon zwei Drittel aus Deutschland und ein Drittel aus Großbritannien stammten. Ihrer neuen Bedeutung gemäß, avancierte die DEA zu einer der Führungsgesellschaften des Konzerns.

RWE übernimmt die früheren Verteilnetze von VEW und WFG

Gas konnte der RWE-Konzern inzwischen jede Menge gebrauchen, denn durch die Fusion mit dem VEW-Konzern verfügte er seit 2001 auch über die Verteilnetze von VEW und Westfälische Ferngas AG (WFG). Diese beiden Verteiler wurden seit mehr als siebzig Jahren von der Ruhrgas beliefert. Die WFG gehörte ursprünglich kommunalen Gebietskörperschaften. Ab 1998 hatten beide Gasversorger jedoch kooperiert und im Jahre 2000 schließlich fusioniert. Die WFG fungierte seitdem im VEW-Konzern als Führungsgesellschaft für Gas. Nach der Fusion von RWE und VEW übernahm sie als RWE Gas dieselbe Funktion im neu strukturierten RWE-Konzern.

An der so entstandenen RWE Gas besaßen die kommunalen Aktionäre der ehemaligen WFG noch immer eine Sperrminorität. Als RWE-Chef Harry Roels 2003 eine erneute Umstrukturierung des Konzerns verkündete, leisteten sie heftigen Widerstand gegen die geplante Zusammenführung der RWE Gas mit der Vertriebsgesellschaft RWE Plus und der Netzgesellschaft RWE Net zur "RWE Energy". Roels mußte den kommunalen Aktionären erhebliche finanzielle Zugeständnisse machen, bevor er die neue Vertriebs- und Netzgesellschaft RWE Energy nach seinen Vorstellungen zurechtschneidern konnte.

Eingliederung der Saar Ferngas scheitert am Bundeskartellamt

Im Mai 2006 einigte sich RWE außerdem mit dem RAG-Konzern über den Erwerb von 77 Prozent an der Saar Ferngas AG, die bisher der RAG-Tochter Steag gehörten. Die Saar Ferngas war einst zur Verteilung des Saar-Kokereigases gegründet worden. Seit der Umstellung auf Erdgas gehörte sie die zu den acht regionalen Ferngasgesellschaften ohne eigene Förderquellen zählte und deckte ihren Bedarf hauptsächlich bei der Ruhrgas.

Es kam aber nicht zur Übernahme der Saar Ferngas. Das Bundeskartellamt untersagte den Kaufvertrag, weil er sowohl beim Gas- als auch beim Stromabsatz zur Verstärkung marktbeherrschender Stellungen geführt hätte. Es bestätigte damit Bedenken, die vor allem die belgische Electrabel, die Mannheimer MVV Energie, die ostdeutsche VNG Verbundnetz Gas und die Berliner Gasag vorgebracht hatten. Diese Namensliste läßt ahnen, wie kompliziert inzwischen die Interessenverflechtungen in der deutschen Gaswirtschaft geworden waren.

Mehrheit an sechs von acht tschechischen Regionalversorgern und Einstieg in Großbritannien

Auch im Ausland legte sich RWE ein beachtliches Gasgeschäft zu. Schon 1997 hatte der Konzern eine Beteiligung an der Gasversorgung der tschechischen Hauptstadt Prag erworben. Im Dezember 2001 erhielt er den Zuschlag für die Privatisierung der gesamten tschechischen Gaswirtschaft. Für insgesamt 4,1 Milliarden Euro erwarb er 97 Prozent am nationalen Gasversorger Transgas sowie jeweils zwischen rund 46 und 58 Prozent an den acht regionalen Gasversorgungsunternehmen. Damit erlangte RWE die Mehrheit an sechs der acht Regionalversorger und über die Transgas den Zugang zu einer der Hauptleitungen für den Transport von russischem Erdgas nach Westeuropa. "Durch diese Akquisition wird RWE mit dann mehr als vier Millionen Endkunden die neue Nummer vier auf dem europäischen Gasmarkt sein", erklärte RWE-Chef Dietmar Kuhnt. "Darüber hinaus sichert die Transaktion eine strategische Schlüsselposition im hochprofitablen europäischen Erdgasgeschäft."

In England übernahm RWE im März 2002 für fünf Milliarden Euro den Energieversorger Innogy. Es handelte sich um ein integriertes Unternehmen, das von der Erzeugung bis zu den Endkunden alle Stufen der Wertschöpfung umfaßte. Neben 4,7 Millionen Stromkunden gehörten dazu 1,9 Millionen Gaskunden.

RWE wird Partner der Gas-Pipeline "Nabucco"

Noch immer aber befand sich RWE als Importeur und Förderer nicht auf Augenhöhe mit E.ON Ruhrgas und BASF/Wintershall. Die beiden Konkurrenten verfügten im Inland über bundesweite Transport-Pipelines, während RWE nur die ehemaligen Netze von Thyssengas, VEW und WFG besaß. Vor allem pflegten sie enge geschäftliche Beziehungen zum russischen Hauptlieferanten Gazprom, waren kapitalmäßig mit diesem verflochten und strebten eine direkte Beteiligung an der russischen Förderung an. Gemeinsam betrieb das Dreier-Bündnis den Bau einer Gaspipeline durch die Ostsee, die Rußland direkt mit Deutschland verbinden sollte.

Der Versuch, als dritter deutscher Partner in diesen Bund mit Gazprom aufgenommen zu werden, wäre wohl nicht das Klügste gewesen. Schon bisher spielte die Gazprom ihre Partner E.ON und BASF bei passender Gelegenheit gegeneinander aus. Mehr Erfolg versprach die Beteiligung an einem konkurrierenden Projekt, das die EU-Kommission aus Gründen der strategischen Versorgungssicherheit initiiert hatte.

Und so trat RWE Anfang 2008 einem Unternehmenskonsortium bei, das die Pipeline "Nabucco" plante. Diese Pipeline sollte die Versorgung Westeuropas mit nicht-russischem Gas unter Umgehung Rußlands sicherstellen. Zu diesem Zweck sollte sie über eine Länge von 3.300 km von der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Baumgarten bei Wien führen, um die großen Erdgaslagerstätten der Kaspischen Region, des Nahen und Mittleren Ostens und anderer Regionen mit dem europäischen Markt verbinden. Die Inbetriebnahme war für 2012 geplant. Wenn alles nach Plan ging, konnte RWE hinsichtlich der langfristigen Gasbeschaffung getrost in die Zukunft sehen.