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Das neue Energierecht vom Frühjahr 1998 änderte am fehlenden Wettbewerb um Gaskunden zunächst gar nichts. Es verbot zwar die Demarkationsverträge, mit denen die Gasversorger bisher ihre Verteilgebiete zusätzlich abgesichert hatten. Die geschlossenen Versorgungsgebiete bestanden aber faktisch weiter. Es handelte sich bei dem neuen Energierecht insofern eher um eine Platzpatrone als um den "Urknall", als das es mitunter dargestellt wird. Zur entscheidenden Frage des Netzzuganges und der Höhe der Netznutzungsentgelte enthielt es für Strom nur sehr unzureichende und für Gas gar keine Bestimmungen. Im wesentlichen sollte die Regelung sowieso den Marktpartnern überlassen bleiben. Beim Gas kamen diese sogenannten Verbändevereinbarungen aber erst mit erheblicher Verspätung zustande, und sie waren dann noch viel unzulänglicher als beim Strom. Erst nach Einsetzung der Bundesnetzagentur als Regulierungsbehörde begann sich auch beim Gas so etwas wie ein Wettbewerb um Endkunden zu regen.
Der Dornröschenschlaf des Wettbewerbs, der fast ein Jahrzehnt lang andauerte, verhinderte indessen nicht eine tiefgreifende Umgestaltung der deutschen Gaswirtschaft. Er begünstigte diese sogar. Die Energiekonzerne steckten nämlich die weiterhin fließenden Monopolgewinne in die Expansion ihrer Geschäftstätigkeit. Vor allem definierten sie ihr Kerngeschäft neu und zählten fortan auch das Gasgeschäft dazu. Schon mit Beginn und kurz nach der Liberalisierung des Energiemarktes legten sich sowohl RWE und E.ON als auch die Energie Baden-Württemberg (EnBW) eigene Vertriebs- und Netzunternehmen für Gas zu. Nur der Vattenfall-Konzern beschränkte sich vorerst weiterhin auf Strom und Fernwärme, was aber hauptsächlich damit zu tun hatte, daß sich die Gaswirtschaft in seinem Bereich bereits in festen Händen befand.
Bis zum Jahr 2007 hatten die vier Energiekonzerne über 350 Beteiligungen an Gasversorgern mit eigenem Netz erworben. Davon gehörten 85 Prozent E.ON und RWE. Zur strategischen Absicherung des Gasabsatzes genügte bereits eine Minderheitsbeteiligung. Nur knapp ein Viertel waren Mehrheitsbeteiligungen.
Bis dahin waren die großen deutschen "Energieversorgungsunternehmen" (EVU) fast durchweg reine Stromversorger. Wenn in der Branche von Energie gesprochen wurde, war nicht die ganze Bandbreite der Energieträger inklusive Gas gemeint, sondern elektrische Energie. Von den ingesamt acht Verbundunternehmen, die bei Inkraftreten des neuen Energierechts 1998 das deutsche Stromnetz betrieben, befaßten sich nur die Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen (VEW) auch mit der Verteilung von Gas. Ähnlich sah es bei den Regionalversorgern aus, wo etwa die EWE zu den wenigen Unternehmen gehörte, die ihre Kunden sowohl mit Strom als auch mit Gas belieferten.
Anders bei den Stadtwerken: Diese waren seit jeher im Strom- und Gasvertrieb tätig. Viele Stadtwerke waren ursprünglich sogar Strom- und Gaserzeuger, die ihren Eigenbedarf komplett aus Eigenerzeugung deckten. Mit der Entstehung der Regionalversorger und Verbundunternehmen wurden sie dann beim Strom zunehmend zu Verteilern, die über keine oder nur noch über geringe Kraftwerkskapazitäten verfügten. Beim Gas dauerte es etwas länger, ehe die Stadtwerke ihre Eigenerzeugung aufgaben. Denn hier bot sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts meistens keine Alternative zum eigenen Gaswerk. Die Versorgung mit Ferngas beschränkte sich auf den Umkreis der Montanreviere. Außerdem hätte das dort produzierte Kokereigas nicht ausgereicht, um den gesamten Bedarf an Stadtgas zu decken. Mitunter schlossen sich mehrere Gemeinden zusammen und betrieben ein "Gruppengaswerk" mit eigenem kleinen Verteilnetz. Aber das war im Grunde nur eine Variante der kommunalen Eigenerzeugung. Das Ende der städtischen Gaswerke kam deshalb erst mit der Umstellung auf Erdgas und dem flächendeckenden Ausbau der Ferngasleitungen, an die nach und nach alle örtlichen Verteilnetze angeschlossen wurden.
Wenn die Stromkonzerne nun das Gasgeschäft entdeckten und Ferngasunternehmen übernahmen, geschah dies nicht in erster Linie deshalb, um nun auch in der Gasverteilung tätig zu werden. Sicher verfügten die Ferngasunternehmen über satte Gewinnspannen. Da sie aber als Netzmonopolisten der besonderen Mißbrauchsaufsicht durch das Bundeskartellamt unterlagen und die Entgelte für die Netznutzung ab 2006 durch die Regulierungsbehörde begrenzt wurden, konnten reine Erdgas-Verteiler kaum Börsenphantasien beflügeln. Was sie attraktiv machte, war etwas anderes: Sie waren das Bindeglied, das den Zugriff auf die gesamte Wertschöpfungskette beim Gas ermöglichte: Nach oben zum Import und zur inländischen Förderung von Erdgas, nach unten zu den Hunderten von Stadtwerken, an denen die Stromkonzerne vielfach Kapitalbeteiligungen hielten. Im Management-Kauderwelsch sprach man je nach Perspektive von "upstream" und "downstream". Dazwischen gab es noch den "midstream". Der RWE-Konzern, der in ganz besonderem Maße von diesem Management-Englisch verseucht war, unterhielt zeitweilig eine Gesellschaft für die Beschaffung von Erdgas namens "RWE Gas Midstream", die dann in der "RWE Supply & Trading" aufging.
Die Wandlung der bisherigen Stromkonzerne zu integrierten Energiekonzernen kam im Umbau der Verbändelandschaft zum Ausdruck, in der bisher der "Verband der Elektrizitätswirtschaft" (VDEW) und der Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft (BGW) jeweils separat die Interessen ihrer Mitglieder vertreten hatten. Dem VDEW gehörten traditionell fast alle Stromversorger an, von den Stadtwerken bis zu den Verbundunternehmen. Faktisch vertrat er aber vor allem die Interessen der Verbundunternehmen, die als Betreiber von Großkraftwerken und Transportnetzen sowie über ihre Kapitalbeteiligungen an Regionalversorgern und Stadtwerken die deutsche Stromwirtschaft beherrschten. Ähnlich sah es beim BGW aus, der nominell ebenfalls für die ganze Branche sprach. Auch hier hatten die spezifischen Interessen der Stadtwerke, die im Querverbund Strom, Gas und Wasser lieferten, im Konfliktfall den schwächeren Stand gegenüber den Konzerninteressen und wurden eher vom "Verband kommunaler Unternehmen" (VKU) vertreten.
Im August 2001 tat der VDEW erstmals öffentlich kund, daß er langfristig an eine Fusion mit dem BGW denke. Ein solches Zusammengehen sei "eine logische und vielleicht auch notwendige Entwicklung" angesichts der Tatsache, daß inzwischen viele Stromkonzerne auch Gas und Wasser anböten, meinte der damalige VDEW-Präsident Günter Marquis.
In der Tat sah es vorübergehend so aus, als ob RWE und andere Konzerne auch eine führende Rolle bei der Wasserversorgung anstrebten. Die Hamburger Wasserwerke (HWW) traten deshalb mit Eklat aus dem BGW aus: "Die Interessen der Mehrheit der Wasserversorger - das sind Kommunen und kleinere Unternehmen - werden vom BGW nicht vertreten, zumal das Präsidium nur aus Vertretern der Gaswirtschaft besteht", erklärte ihr Geschäftsführer Hanno Hames. Außerdem verschickten die HWW ein Schreiben an mehr als 6500 Wasserversorger und Zweckverbände, in dem sie dem BGW vorwarfen, eine "schlichte Interessenvertretung von privaten Großfirmen der Gas- und Stromwirtschaft" zu sein, die nach günstigeren Rahmenbedingungen für den weiteren Einstieg in die Wasserversorgung strebten. Eine Liberalisierung wie bei Telekommunikation und Gas könne und dürfe es aber bei der Wasserversorgung nicht geben.
Dieser Griff nach der Wasserversorgung blieb indessen eine Episode. Der RWE-Konzern, der sich mit dem Aufkauf von Wasserversorgern in Großbritannien und den USA am weitesten auf dieses Terrain vorgewagt hatte, trat bald unter großen Verlusten wieder den Rückzug an. E.ON mußte sich von der Gelsenwasser AG ohnehin trennen, weil dies zu den Auflagen gehörte, mit denen die Ministererlaubnis zur Übernahme der Ruhrgas verbunden war.
Umso emsiger betrieben die Konzerne weiterhin ihren Einstieg ins Gasgeschäft. Zunächst hatte dabei RWE mit dem Erwerb von Thyssengas und den ehemaligen Verteilnetzen von VEW und WFG in Deutschland sowie der kompletten Übernahme der Gaswirtschaft in Tschechien die Nase vorn. Im Jahre 2002 wurde der ehemalige Platzhirsch der deutschen Stromwirtschaft dann aber durch den vor zwei Jahren entstandenen E.ON-Konzern auch in punkto Gas auf den zweiten Platz verwiesen. Mit kräftigem politischen Rückenwind der Bundesregierung gelang es E.ON, die Ruhrgas AG zu übernehmen, die seit jeher den größten Teil der deutschen Gaswirtschaft beherrschte. Mit erheblichem Abstand zu den Gasaktivitäten von E.ON und RWE folgte auf dem dritten Platz die Energie Baden-Württemberg, die 2002 gemeinsam mit dem italienischen Energiekonzern ENI die Gasversorgung Süddeutschland (GVS) übernommen hatte und 2004 auch die Mehrheitsbeteiligung an der Gasversorgung Sachsen Ost (Gaso) erwerben konnte.
Damit war nach Ansicht der Energiekonzerne die Zeit endgültig reif für die Zusammenlegung von VDEW und BGW. Im November 2005 lancierten sie ein entsprechendes Positionspapier an die Öffentlichkeit, um die Reaktion zu testen. Prompt erklärten die Stadtwerke von Ludwigshafen, Rosenheim, Soest, Unna und Aachen ihren Austritt aus dem BGW bzw. dem VDEW, weil beide Verbände eher den Interessen der großen Konzerne als denen der lokalen Energieversorger verpflichtet seien. Die Erwartung der fünf Stadtwerke, daß andere lokale Energieversorger ihrem Beispiel folgen, scheint sich aber nur in geringem Maß erfüllt zu haben, denn die Verbändefusion, die auf Seiten des VDEW mit einem Revirement von dessen Fachverbänden verbunden war, wurde nun zügig in Angriff genommen. Bis Dezember 2006 einigte man sich intern auf die Grundstruktur des neuen Verbandes. Im Juni 2007 beschlossen dann die Mitgliederversammlungen der bisherigen Branchenverbände ihre Verschmelzung zum neuen Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) mit Sitz in Berlin. Neben VDEW und BGW beteiligten sich auch die beiden VDEW-Fachverbände VDN und VRE an der Fusion. In ihrem Fall handelte es sich aber eher um ein Begräbnis erster Klasse, denn dem "Verband der Netzbetreiber" (VDN) war inzwischen durch die Bundesnetzagentur als neuer Regulierungsbehörde die Butter vom Brot genommen worden, und beim "Verband der Verbundunternehmen und Regionalen Energieversorger in Deutschland" (VRE) handelte es sich von Anfang an um eine schwachbrüstige Schöpfung der vier Konzerne, die ebenfalls nicht mehr gebraucht wurde.
VDEW und BGW waren ursprünglich eher Branchen-Fachverbände. Bei beiden war der hauptamtliche Verbandsapparat einem ehrenamtlich tätigen Präsidium unterstellt, das in wechselnder Zusammensetzung aus Spitzenmanagern der Branche bestand. Diese Struktur hatte auch der BDEW übernommen. Nach Ansicht der vier großen Energiekonzerne war sie indessen nicht mehr zeitgemäß, weil der BDEW vor allem politische Lobbyarbeit leisten sollte. Schon auf der ersten Mitgliederversammlung im Juni 2008 wollten sie deshalb eine Satzungsänderung beschließen lassen, die einen hauptamtlich tätigen Präsidenten einführte. Mit dem früheren Chef von McKinsey Deutschland, Jürgen Kluge, glaubten sie auch bereits die richtige Besetzung für den neugeschaffenen Posten gefunden zu haben. Allerdings hatten die Konzerne nicht hinreichend bedacht, daß sie damit erneut den Graben zu den kleineren Mitgliedern aufrissen, die sich schon im VDEW und BGW untergebuttert fühlten. Da half auch nicht viel, daß beim BDEW inzwischen eine besondere Vertretung für kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) eingerichtet worden war. Bereits vor der Mitgliederversammlung wurde klar, daß die Satzungsänderung nicht die notwendige Mehrheit finden würde, obwohl - oder gerade weil - das üppige Gehalt des neuen Verbandspräsidenten in Höhe von zwei bis drei Millionen Euro von den Konzernen bezahlt worden wäre. So beließ man es vorerst bei der bisherigen Verbandsstruktur und begnügte sich damit, die CDU-Politikerin Hildegard Müller zur Vorsitzenden der Hauptgeschäftsführung zu machen, die bisher als Doppelspitze für die Bereiche Strom und Gas konstruiert war.